Die ukrainische Schiedsrichterin Kateryna Monzul (r.) bei der EM

Schiedsrichterin aus der Ukraine Kateryna Monzul - der lange Weg von Charkiw zum EM-Finale

Stand: 30.07.2022 15:32 Uhr

Fluchtpunkt Fußball: Schiedsrichterin Kateryna Monzul ist wie ihre Assistentin Maryna Striletska dem Krieg in der Ukraine entkommen. Zusammen leiten sie das EM-Finale. Die Sorge um ihre Familien in der Heimat ist allgegenwärtig.

Von Ines Bellinger

Bevor Kateryna Monzul am Sonntag (31.07.2022 / 18 Uhr MESZ / live im Ersten und bei sportschau.de) die beiden Finalisten England und Deutschland auf den Rasen des Wembley-Stadion führen wird, wird sie wie jeden Tag in Charkiw anrufen und sich vergewissern, dass ihre Eltern noch am Leben sind. Für die Schiedsrichterin sind Videotelefonate in ihre Heimat in der Ostukraine seit knapp fünf Monaten zu einer traurigen Routine geworden. Ja, die Euro in diesem Jahr war das Ziel für die international hoch angesehene Unparteiische. Aber nein, sie hätte nie gedacht, dass sie die Reise nach England unter solch traumatischen Umständen antreten würde.

Als Russland Ende Februar die Ukraine überfiel, flüchtete Monzul mit ihrer Familie in das Haus ihrer Eltern, wo sich alle versteckten. Fünf Tage hätten sie aus Angst vor Raketenangriffen in einem Raum unter der Erde ausgeharrt, erzählt die 41-Jährige "uefa.com". Dann habe sie beschlossen, das Land zu verlassen. Mit ihren beiden Schwestern und den Kindern der drei Frauen fuhr sie im Auto durch Moldawien, Ungarn, die Slowakei und Tschechien bis nach Deutschland: "Als wir die Ukraine verließen, hatten wir keine Ahnung, wie es für uns weitergehen sollte."

Italiens Verband bietet Monzul Unterschlupf und Arbeit

Schneller als sie es für möglich gehalten hatte, ging sogar ihr Leben als Schiedsrichterin weiter. Der italienische Fußballverband bot der FIFA-Schiedsrichterin eine Unterkunft in Turin an und die Möglichkeit, Fußballspiele zu pfeifen. Als Monzul am 20. März in Mailand das Frauenspiel Inter Mailand gegen Sampdoria Genua pfiff, lief sie eingehüllt in eine ukrainische Flagge auf das Spielfeld.

Zerschossene und ausgebrannte Wohnblocks, verminte Straßen - wenn die Architektin und Stadtplanerin die Bilder aus der zweitgrößten ukrainischen Metropole sieht, kann sie nicht fassen, was in ihrer Heimat geschieht. "Niemand hatte erwartet, dass im 21. Jahrhundert eine solche Situation eintreten könnte", sagt sie.

Die ukrainische Schiedsrichterin Kateryna Monzul (l.) läuft, eingehüllt in die Flagge ihres Landes, in Mailand zum Spiel der Frauen von Inter Mailand gegen Sampdoria Genua auf. (Foto vom 20. März 2022).

Kateryna Monzyl (l.) betritt im März in Mailand mit einer ukrainischen Flagge das Spielfeld.

Finale in Wembley: "Ein emotionaler Moment"

Das eigentlich qualifizierte russische Frauen-Nationalteam ist wegen Putins Angriffskrieges von der EM ausgeschlossen und durch Portugal ersetzt worden. Auch wurde keine russische Schiedsrichterin nominiert, neben Monzul aber noch eine weitere ukrainische: Maryna Striletska.

Mit ihrer Assistentin leitete Monzul bislang drei EM-Partien, neben Spanien - Finnland (4:1) in der deutschen Vorrundengruppe auch Österreich - Norwegen (1:0) und das Viertelfinale Schweden - Belgien (1:0). Im Halbfinale zwischen England und Schweden (4:0) war Monzul zudem als Vierte Offizielle im Einsatz. Nun sind sie gemeinsam mit ihrer polnischen Kollegin Paulina Baranowska auch für das Endspiel im Wembley-Stadion nominiert worden, als Vierte Offizielle fungiert die Französin Stéphanie Frappart. "Das ist ein wirklich emotionaler Moment für mich", sagte Monzul, die noch nie ein Spiel vor so großer Kulisse geleitet hat. "Aber es ist auch ein Moment, in dem ich große Verantwortung spüre, weil ich ein wichtiges Fußballspiel leiten werde."

Frieden auf der Welt ist das Wichtigste. Das ist meine Hoffnung für uns alle.
Kateryna Monzul

Monzul und Striletska - auch bei Männer-Spielen im Einsatz

Die Ansetzung ist kein rein symbolischer Akt des europäischen Verbandes. Monzul und Striletska gehören zu den angesehensten Schiedsrichterinnen weltweit. Monzul leitete bereits das WM-Finale 2015 zwischen den USA und Japan (5:2), das Olympia-Halbfinale zwischen den USA und Kanada (0:1) in Tokio und 2014 das Champions-League-Endspiel zwischen dem VfL Wolfsburg und Tyresö FF (4:3) in Lissabon.

Seit 2016 pfeift sie auch Männer-Spiele, beginnend in der ukrainischen Liga bis zu WM-Qualifikationsspielen. Mit Striletska an ihrer Seite schrieb Monzul Geschichte, als im November 2020 bei der Nations-League-Partie zwischen San Marino und Gibraltar erstmals ein komplett weibliches Schiedsrichter-Team ein Länderspiel der Männer leitete. Im vergangenen Jahr folgten die WM-Qualifikationsspiele zwischen Österreich und Färöer im März und Andorra gegen England im Oktober.

Die ukrainische Schiedsrichterin Kateryna Monzul (2.v.l.) und ihre Assistentin Maryna Striletska (l.) vor dem Anpfiff des WM-Qualifikationsspiels zwischen Andorra und England am 9. Oktober 2021.

Kateryna Monzul (2.v.l.) und Maryna Striletska (l.) vor dem Anpfiff des WM-Qualifikationsspiels zwischen Andorra und England am 9. Oktober 2021.

Russische Armee marschiert durch Striletskas Dorf

Gut vier Monate später wurde das Leben der beiden Schiedsrichterinnen aus den Angeln gehoben. Striletska war zu Hause in ihrem Dorf, 30 Kilometer von der Grenze entfernt, als die russische Armee Richtung Kiew marschierte. Die Soldaten seien zunächst freundlich gewesen, hätten Blumen und Brot gebracht. "Aber nach einer Woche merkten sie, dass wir ihre Hilfe nicht wollten. Sie wurden wütend und fingen an, auf zivile Autos zu schießen", erzählt Striletska der "BBC". Fast täglich hätten sie fortan voller Angst gen Himmel geschaut, wenn russische Maschinen im Tiefflug ihr Dorf überquerten.

In Polen in Sicherheit

Es war bereits Mitte März, als Striletska den Entschluss fasste, zu ihrer Schwester in die Schweiz zu fliehen. Sie packte nur eine Tasche, nahm ihre elfjährige Tochter, die Frau eines Freundes und deren zwei Kinder und fuhr mit dem Auto los in Richtung Polen. Ihren wehrpflichtigen Mann, der ebenfalls Schiedsrichter und zudem Fußballtrainer ist, musste sie zurücklassen. Die Fahrt habe vier Tage gedauert, berichtet sie. Sie hätten sich unterwegs in einem Dorf vor durchfahrenden Panzern verstecken müssen und in einer Kirche auf dem Fußboden geschlafen. Schließlich warteten sie 17 Stunden an der polnischen Grenze. "Aber danach hatte ich das Gefühl, dass wir in Sicherheit waren."

Striletska flüchtete schon 2014 aus dem Donbass

Bei ihrer Schwester in Basel angekommen, habe sie drei Wochen lang nur geweint, sagt Striletska, in Sorge um ihren Mann, in Sorge, zum zweiten Mal ihr Zuhause zu verlieren. Sie wurde in Luhansk geboren und flüchtete 2014, als die Kämpfe zwischen Russland und der Ukraine um die Region Donbass begannen. "Wir haben damals alles verloren", sagt sie. "Ich habe meine Eltern bis zu ihrem Tod nicht wiedergesehen."

Dass sie bei der EM in England eine Gesprächspartnerin haben, mit der sie sich nicht nur über Abseits und Foul oder nicht Foul austauschen können, sondern die auch genau weiß, was die andere durchmacht, empfinden die Ukrainerinnen als ein großes Glück im Unglück. "Das hat mir wirklich geholfen. Ich bin froh, dass ich hier bei ihr bin", sagt Monzul.

Monzul und Striletska wollen bald nach Hause

Trotz der seelischen Belastung machen Monzul und Striletska bislang einen Super-Job. Es sei nicht möglich, den Krieg zu vergessen, aber auf dem Spielfeld könne sie komplett auf Fußball umschalten, sagt Monzul. Beide Frauen sind extrem dankbar für die Hilfe, die sie und andere ukrainische Familien im Ausland erhalten haben. Trotzdem hoffen sie, schnellstmöglich in die Ukraine und zu ihren Familien zurückkehren zu können. Über allem stehe, den Krieg zu beenden, sagt Monzul: "Frieden auf der Welt ist das Wichtigste. Das ist meine Hoffnung für uns alle."