ARD-Experte im Sportschau-Interview Lutz Wagner: "Schiedsrichter sollen Fehler klar und offen zugeben"

Stand: 05.06.2021 18:31 Uhr

Fast 300 Spiele hat Lutz Wagner in der ersten und 2. Bundesliga geleitet. Im Sportschau-Interview spricht der Sportschau-Experte vor der EM 2020 über den Druck, unter dem die Unparteiischen stehen, über Psychologie und den Umgang mit Fehlern.

Sportschau: Im Sport ist oft vom Druck die Rede, unter dem Spieler oder Trainer stehen. Wie groß ist der bei einem Schiedsrichter - speziell vor so einem Turnier wie der Europameisterschaft?

Lutz Wagner: "Auf keinen Fall geringer als bei den Akteuren selbst, im Gegenteil. Es gibt auch bei den Schiedsrichtern einen starken Konkurrenzkampf, wenn man sich mal die Zahlen vor Augen hält: Wir haben knapp 60.000 aktive Schiedsrichter im DFB Bereich, davon dürfen jetzt zwei, Felix Brych und Daniel Siebert, zur Euro. Und wenn man auf diesem Niveau weiter kommen will, darf man sich eigentlich auch kaum Fehler erlauben."

Wie kriegt man diesen Stress kurz vor dem Spiel in den Griff?

Wagner: "Da ist jeder anders, und ich finde es enorm wichtig, dass man das auch so respektiert und als Schiedsrichter-Coach niemanden in ein Schema pressen will. Der eine zieht sich in der letzten halben Stunde vor dem Spiel total zurück, der andere hört seine Musik, der dritte redet gern bis kurz vorm Anpfiff ganz viel. Was hilft, sind vertraute Abläufe, Rituale wie bei den Fußballern auch. Es hilft natürlich auch, wenn du wie Felix Brych schon viele Top-Turniere gepfiffen hast."

Aber bei der WM 2018 war es nicht so top - da wurde er von der FIFA nach nur einem Spiel mit einer Fehlentscheidung eiskalt nach Hause geschickt. Wird es deshalb diesmal für ihn und sein Gespann noch härter?

Wagner: "Erstens muss Felix Brych niemandem mehr etwas beweisen - er wurde zum besten Schiedsrichter des Jahrzehnts gewählt. Zweitens spielten 2018 auch sportpolitische Gründe eine Rolle, da ist Brych etwas in die Mühlen der Verbände geraten. Ich finde, er kann jetzt völlig unbelastet in das Turnier gehen."

Wenn ein junger Schiedsrichter Sie fragt - empfehlen Sie auch Psyocholgen oder Coaches, um all diese Einflüsse zu bewältigen?

Wagner: "Absolut, aber das muss nicht nur der eine Coach oder Psychologe sein, denn es sind ja viele Bereiche abzudecken. Wenn es beispielsweise um das Auftreten ganz allgemein geht, rate ich zu jemandem, dessen Kritik einem weh - aber dessen Lob einem auch gut tut. Das kann überspitzt gesagt der Vorsitzende des Angelvereins sein oder der Großvater oder der Nachbar - Hauptsache, der Draht zu ihm stimmt. Wenn es um Taktik und Regeln geht, ist natürlich der Schiedsrichter-Coach gefragt. Mentoren sind immer sehr wichtig für die ganze Laufbahn."

Wie wichtig ist es für einen Schiedsrichter, dass gleich die ersten Pfiffe sitzen und man den Spielern gleich eine klare Linie zeigt?

Wagner: "Extrem wichtig. Aber genauso wichtig ist: Wenn dir im Spiel etwas daneben geht - und das kriegst man sofort mit - dann musst du das abhaken können. Und bloß nicht meinen, du musst es irgendwie korrigieren und somit dann eine Konzessionsentscheidung treffen, denn dafür haben dieProfis ein herausragendes Gespür. Diese Fähigkeit ist es auch, die die absolute Top-Elite ausmacht. Ich glaube, dass von unseren 60.000 Schiris bestimmt 1.000 ein Bundesliga-Spiel gut leiten können - wenn es 3:0 steht und die Sonne scheint. Aber wenn du nach drei Minuten den Kapitän des Heimvereins vom Platz stellen musst, ein wichtiges Tor vorm Fanblock zurückpfeifst, die ganze Tribüne schreit: 'Hängt sie auf, die schwarze Sau' - und du trotzdem ruhig deine Linie weiterpfeifst - nur dann kommst du nach ganz oben."

Täuscht der Eindruck, dass der VAR jemanden wie Felix Brych nicht gerade stärker gemacht hat? Er selbst hat auch gesagt, dass er sich vorher oft auf ein gutes Bauchgefühl verlassen hat.

Wagner: "Das mag zu Beginn vielleicht so gewesen sein, aber das hat sich geändert. Bei dem ein oder anderen Schiedsrichter war es in der Startphase so, dass sie den Gang raus zum Videoschirm als Schwäche empfunden haben - aber das ist vorbei. Der VAR ist eine zusätzliche Unterstützung, er hilft extrem, denn ein Schiedsrichter kann zum Beispiel bei einem Eckstoß mit fünf Zweikämpfen gleichzeitig im Strafraum gar nicht alles beobachten. Wichtig ist, du gehst als Schiedsrichter nicht raus zum Bildschirm, um Argumente für deinen Pfiff zu suchen. Sondern du überprüfst die Szene, als hätte sie Schiri XY getroffen, ganz neutral."

Hätten Sie den VAR gerne schon zu Ihrer Zeit gehabt?

Wagner: "Ich versichere Ihnen zu 100 Prozent, dass ich dann weniger schlaflose Nächte gehabt hätte. Denn wenn du pfeifst, machst du auch Fehler - und mit VAR hätten davon einige eben keinen Bestand gehabt."

Manche Fehler haben heute trotz VAR Bestand - was für einen Umgang damit halten Sie für den besten?

Wagner: "Einen offenen und ehrlichen. Ein Beispiel: Ich war 2015 beim legendären Hand-Tor von Hannovers Leon Andreasen gegen Köln als Coach in der Schiedsrichter-Kabine. Der Fehler war inzwischen klar erkannt. Ich habe dem Schiedsrichter gesagt, es gibt jetzt zwei Möglichkeiten: Auto warmlaufen lassen und ab durch die Hintertür. Oder raus - und dazu stehen! Wir haben dann ARD und ZDF mit Kamera in unsere Kabine geholt und ein kurzes, klares und erklärendes Statement abgegeben: Falsche Wahrnehmung, das Tor hätte nicht zählen dürfen – das war es. Es gab hinterher keine Nachfragen mehr, weil damit alles geklärt war. Wenn ich dann sehe, wie scheibchenweise beispielsweise beim Abgasskandal alles rausgekommen ist - das ist immer die schlechtere Alternative."

Sollten in diesem Zusammenhang auch die Fans im Stadion mehr mitgenommen werden? Der Schiedsrichter könnte wie beim Football kurz seinen Beweggrund für eine korrigierte oder eben nicht korrigierte Entscheidung übers Stadion-Mikro kommunizieren.

Wagner: "Vollkommen richtig. Der TV-Zuschauer sieht oft viel schneller, was wirklich los war. Und der, der im Stadion das teure Ticket gekauft hat, muss dann zu Hause anrufen - war das jetzt Elfer oder nicht? Also: Wenn alle Leinwände in den Stadien technisch so weit sind, dass man das entscheidende Bild vom Foul oder Handspiel entsprechend zeigen kann - dann bitte gerne sofort! Und auch die Ansage vom Schiedsrichter an die Fans würde ich begrüßen. Es ist alles gut, was die Transparenz verbessert."

Apropos Transparenz, jetzt mal ganz ehrlich: Wünscht man sich als Schiedsrichter eigentlich, dass die deutsche Mannschaft bei einem Turnier nicht so weit kommt - weil man dann ja selbst eher nach Hause fahren muss?

Wagner: "Wenn das am Ende wirklich der Grund ist, dass Felix Brych und Daniel Siebert nach Hause müssen, dann könnten beide damit gut leben - denn natürlich freuen sich beide mit den Erfolgen des DFB-Teams. Man sollte diese Regelung im Bedarfsfall immer wieder überprüfen. Natürlich darf nie ein Schiedsrichter ein Spiel seines Landes leiten und auch in derselben Gruppe pfeifen. Aber ein anderes Viertel- oder Halbfinale, das sollte möglich sein. Sonst fahren einfach zu oft und zu früh Klasse-Schiedsrichter nach Hause."