Abwehr ohne Gegentor und ein überragender Keeper Sterling glänzt - aber Englands Prunkstück liegt weiter hinten

Stand: 29.06.2021 23:13 Uhr

Englands Torhüter waren im Lauf der Jahrzehnte oft Ziel des Spotts: David Seaman, David "Calamity" James, Robert Green, Joe Hart - sie alle leisteten sich millionenschwere Fehlgriffe. Dieses Thema hat sich dank Jordan Pickford erledigt - sein Glanz überstrahlt sogar den von Goalgetter Raheem Sterling.

1:0 gegen Kroatien, 0:0 gegen Schottland, 1:0 gegen Tschechien. Wie sonst nur die Italiener marschierte England ohne Gegentreffer durch die Vorrunde, und trotzdem gab es harte Kritik an Gareth Southgate. Der Trainer verhindere mit seiner abwartenden und uninspirierten Spielweise, dass sich die grandios besetzte Offensive um Sterling und Harry Kane entfelten könne, lautete der Kernvorwurf. Ganz abgesehen davon, dass es auch wenig Verständnis dafür gab, jedesmal den talentierten, aber wenig effektiven Bukayo Saka den beliebteren Marcus Rashford, Phil Foden oder auch Jadon Sancho vorzuziehen.

Aber Southgate schert sich wenig um die Einflüsse von außen, das hat er mit Joachim Löw gemeinsam. Er bot auch beim 2:0 im Achtelfinale gegen Deutschland das Offensivpersonal seines Vertrauens auf, Foden, Rashford, Sancho oder Mason Mount wurden nicht mal eingewechselt. Dafür änderte der Coach aber trotz der drei Zu-Null-Spiele völlig überraschend die Abwehrformation.

Dreierkette gegen die deutschen Flügel

Aus der Vierer- machte er eine Dreierkette mit Kyle Walker, Harry Maguire und John Stones. Was man auch wie ein Wegducken vor den deutschen Stärken hätte deuten können, erwies sich in Kombination mit einem starken Pickford als das perfekte Mittel gegen das Flügelspiel des DFB-Teams über Robin Gosens und Joshua Kimmich.

Southgate hatte aus dem Ungarn-Spiel gelernt, bei dem sich die Deutschen ebenfalls vorne festrannten, keinen Platz zum Flanken fanden und beim 2:2 beinahe schon ausgeschieden wären. Auch gegen England war von Gosens ganz wenig zu sehen, Kimmich rieb sich auf wie immer, setzte aber offensiv auch so gut wie gar keine Akzente.

Trippier und Shaw doppeln

Womit die Deutschen auch gar nicht klarkamen, war das Doppeln auf den Außen durch Kieran Trippier rechts und Luke Shaw links. Das einzige Stilmittel, das die Engländer an diesem Abend im Wembley Stadion nicht verhindern konnten, waren die Steilpässe hinter die Kette, bei denen das fehlende Tempo von Maguire deutlich wurrde. Doch wie bei Timo Werners Großchance in der 8. Minute rettete dann eben Pickford, wo Seaman, James, Hart oder Green vielleicht nicht gerettet hätten.

Pickford hielt auch den Gewaltschuss von Kai Havertz kurz nach der Pause - als es noch 0:0 stand - brillant. Bei Thomas Müllers Megachance zum Ausgleich acht Minuten vor Schluss verkürzte er den Winkel gut, hatte dann aber auch einfach Glück, dass Müller den Ball nicht vernünftig traf.

Schon bei der U21 herausragend

Man könnte sagen, dass sich Pickford das Glück in dieser entscheidenden Situation erarbeitet hat. Auch ihm misstraute die in Sachen Torhütern schwerst leidgeprüfte Nation lange, trotz seiner herausragenden U21-EM 2017, bei der er wie sein deutscher Kollege Julian Pollersbeck nachhaltig auf sich aufmerksam machte. Zuvor hatte Pickford eine verrückte Odyssee hinter sich.

Seine Eigentümer beim FC Sunderland jagten ihn von einer Ausleihe zur nächsten, er musste sich in Klubs wie Darlington, Albion, Burton oder Preston North End auch durch die unteren Ligen wie die Championsship, die League One oder wieder die Jugendliga von Sunderland quälen, ehe er in die "Erste" aufrücken durfte. Dann bezahlte der FC Everton plötzlich unglaubliche 34 Millionen Euro für ihn, der in 29 Premier-League-Partien 50 Gegentore kassierte - soviel hatte damals noch nie ein englischer Klub für einen Goalie ausgegeben.

Plötzlich drittteuerster Keeper der Welt

Mit dieser Rekordablöse war Pickford auf einen Schlag drittteuerster Torhüter der Welt, hinter Gianluigi Buffon und Ederson. Dass ihn Southgate vor dem WM 2018 zur Nummer eins machte, verstanden dennoch in England nicht viele, zumal Pickford zuvor erst drei Freundschaftsspiele absolviert hatte. Doch Southgate hatte 2017 auch die U21 betreut und wusste, dass er sich auf die unglaubliche Reaktionsschnelligkeit und den hervorrragenden linken Fuß im Spielaufbau verlassen konnte.

Dass er mit seinen 1,85 Metern Reichweitennachteile beispielsweise gegenüber seinem Vorgänger Hart hat, nahm Southgate in Kauf, weil er merkte, dass auch die Abwehr vor ihm nach vielen Jahren mal wieder Vertrauen in einen Schlussmann entwickelte.

Van Dijk schwer verletzt

Bei seinem überbordenden Ehrgeiz ist allerdings der Grat schmal. So blickte ihn im Deutschland-Spiel der Hüne Maguire auch mal etwas staunend an, als Pickford seine Vorderleute inklusive seiner selbst ordentlich zusammenfaltete. Auch in der Premier League hat Pickford schon übel danebengelangt, als er beispielsweise im Oktober 2020 mit einer brutalen Grätsche Liverpools Virgil van Dijk das Kreuzband durchtrat. Schiedsrichter Michael Oliver gab später zu, dass er ihm dafür hätte Rot zeigen müssen.

Die Aggressivität ist aber Teil seines Torwartspiels, und bei der EURO 2020 bewegt sich Pickford bislang absolut im Rahmen. Sportlich sprengt er den sogar - mit diesem Torwart ist England ein Titelkandidat.