Spieler von Udinese Calcio jubeln über einen Treffer

Serie A Udinese und der Traum, der nicht so schnell enden soll

Stand: 07.10.2022 14:00 Uhr

Udinese Calcio ist bislang die Überraschungsmannschaft der italienischen Serie A. Mit eindrucksvollen Leistungen hat sich das Team des Trainernovizen und Klopp-Verehrers Andrea Sottil in die Spitzengruppe geschoben. Dass Udine ein Ort ist, an dem Spieler besser werden, weiß auch Oliver Bierhoff. Jetzt steht ein unerwartetes Spitzenspiel gegen Atalanta Bergamo an.

Von Jörg Seisselberg, ARD-Studio Rom

Pierpaolo Marino hat schon einiges gesehen. Vor knapp vier Jahrzehnten hat der Technische Direktor von Udinese Calcio seine Managerkarriere beim SSC Neapel begonnen, zu Zeiten Diego Maradonas. Am Montagabend (03.10.2022) aber war der heute 68-Jährige von seinen Gefühlen überwältigt wie selten. Tränen der Freude hatte er in den Augen und die Stimme klang stockend, als sich Marino den Journalisten stellte nach dem 2:1-Sieg Udineses bei Hellas Verona. Es sei "wie ein Traum", kommentierte Marino sichtlich gerührt die erneut starke Leistung seiner "Bianconeri". Um den Wunsch nachzuschieben, dieser Traum, den er und Udinese derzeit lebten, solle, bitteschön, nicht so schnell enden.

Udineses Calcios Sportdirektor Pierpaolo Marino

Sportdirektor Pierpaolo Marino

Ein Traum, der sich auch statistisch belegen lässt. Mit 19 Punkten nach acht Spielen hat Udinese den besten Saisonstart seiner Geschichte hingelegt. Mit nur einem Zähler Rückstand ist das Team aus der nordöstlichen Ecke Italiens derzeit Dritter, hinter den punktgleich Führenden SSC Neapel und Atalanta Bergamo. Was bedeutet, dass Udine an diesem Wochenende daheim gegen Bergamo in den ungewohnten Genuss eines Spitzenspiels kommt. Dritter gegen Zweiter, Udinese gegen Atalanta - die Toppartie, die kaum jemand erwartet hat.

Udineses Spiel kennt nur eine Richtung

Noch überraschender als die Platzierung Udineses sind die Leistungen, mit denen das Team sich seine Topposition erspielt hat. Egal gegen welchen Gegner es geht, egal mit welcher Taktik sich dieser präsentiert, egal wie der Zwischenstand ist - Udineses Spiel kennt nur eine Richtung. Torjägeridol Luca Toni kommentierte nach dem Sieg in Verona als Experte bei den italienischen Kollegen von "DAZN" ungläubig kopfschüttelnd: "Die attackieren ja von der ersten bis zur letzten Minute!"

Kein andere Mannschaft der Serie A praktiziert ein derart aggressives Pressing wie Udinese, niemand sucht derart schnell und konsequent den Weg zum Torabschluss. Dieser Angrifffußball im Turbotempo ist das Werk eines Trainerneulings in der Serie A. In Udine, wo sie schon immer Talenten auf dem Platz und auf der Bank eine Chance geben, arbeitet seit Sommer Andrea Sottil ("Mein Vorbild als Trainer ist Jürgen Klopp").

Um die Jahrtausendwende war der heute 48-Jährige ein harter Verteidiger bei Klubs, die zwischen Serie A und B pendelten, unter anderem in Udine. Als Trainer ist Sottil bislang unterklassig tätig gewesen, zuletzt hatte er in der Serie B Ascoli von einem Abstiegs- auf einen Playoff-Platz geführt. Den bislang schon offensiven Spielstil Udineses hat Sottil in wenigen Wochen perfektioniert und seinem Team ein dominantes Auftreten auf dem Rasen vermittelt, das man von etablierten Spitzenteams, aber nicht von einer Mannschaft aus der Provinz gewohnt ist.

Udinese-Coach Andrea Sottil

Udinese-Coach Andrea Sottil

Ein deutsches Talent

Der derzeitige Traum in Udine hat auch deutsche Elemente. Manager Marino erwähnte in seinen freudentränengetränkten Kommentaren nach dem Sieg in Verona einen Spieler namentlich: Lazar Samardzic, der in Deutschland für Hertha BSC und RB Leipzig gespielt hat. Der gebürtige Berliner mit serbischen Wurzeln war der Matchwinner im Spiel gegen Verona, in dem sich Udine trotz permanenter Dominanz mit dem Toreschießen schwer tat. Bis der 20-jährige Samardzic kam, wie so häufig als erster Joker von Sottil in der zweiten Halbzeit eingewechselt. Mit einem lässig gechipten Steckpass bereitete der deutsche U21-Nationalspieler den Ausgleich vor, mit einem im perfekten Bogen gezogenen Freistoß leistete er die Vorarbeit zum Siegtreffer.

Samardzic erinnere ihn an Gianni Rivera, meinte Marino hinterher. Ein größeres Kompliment für einen offensiven Mittelfeldspieler ist in Italien kaum denkbar. Damit nicht genug, schob der angesichts der derzeitigen Form seiner Mannschaft euphorisierte Manager hinterher: Samardzic habe seiner Meinung nach das Zeug, ein Superstar zu werden. Sagt wohlgemerkt jemand, der ein paar Jahre eng mit Diego Maradona zusammengearbeitet hat.

U21-Nationalspieler Lazar Samardzic

Lazar Samardzic im Dress der deutschen U21

Der Mann im Hintergrund

Wobei Marino in Italien bislang weniger für euphorische Superlative, als für seriöse, fleißige Arbeit bekannt ist. Wegen seines Händchen beim Entdecken und Fördern von Talenten ist Marino vor einigen Jahren als der Manager mit der besten Scouting-Arbeit ausgezeichnet worden, als er noch für Atalanta Bergamo tätig war. Jetzt - wieder - bei Udinese scheint es ein Perfect Match zu ein. Scouting-Meister Marino bei dem Klub, der seine mittlerweile über 25 Jahre durchgehende Präsenz in der Serie A nicht zuletzt seinem erfolgreichen Scouting zu verdanken hat.

Udineses Vereinspatron Giampaolo Pozzo, ein erfolgreicher Maschinenbauunternehmer, hat den Klub in den 1980er Jahren übernommen. 2008 verkaufte der in der Öffentlichkeit eher schweigsame Udineser seine Firma an Bosch und konzentrierte sich ganz auf den Fußball. Pozzo betonte in einem seiner seltenen Interviews, er investiere nicht, "um mich ins Rampenlicht zu stellen, wie Berlusconi", sondern weil "Fußball das Hobby der Familie" sei.

Neben dem italienischen Traditionsverein Udinese gehört den Pozzos seit 2011 auch der englische Championship-Klub FC Watford. In den Jahrzehnten an der Spitze von Udinese Calcio haben sie ein Scouting-Netz entwickelt, das zum größten und besten in Europa gehört. Nur in seinen Anfangsjahren, in den 1980ern, gönnte Giampaolo Pozzo seinem Verein mit dem Brasilianer Zico einen Weltstar. Ansonsten ist Udinese ein Verein, der Stars nicht kaufen, sondern entwicklen möchte.

Udineses technischer Direktor Gianpaolo Pozzo auf einer Auswechselbank

Udineses technischer Direktor Gianpaolo Pozzo

"Talentfabrik Udinese"

Immer wieder werden Spieler aus unteren Ligen oder dem Ausland geholt, mit dem Ziel sie in Udine besser und auf dem Transfermarkt wertvoller zu machen ("Football Italia": "Talentfabrik Udinese"). Erst im Sommer hat Udinese Rodrigo de Paul für 35 Millionen Euro an Atlético Madrid abgegeben. Alexis Sanchez, Juan Cuadrado, Samir Handanovic, Marcio Amoroso, Piotr Zielinski, Kwadwo Asamoah und Fabio Quagliarella sind andere Beispiele an Spielern, die in der Talentschmiede Udinese groß oder (wieder) besser geworden sind. Auch der Name Oliver Bierhoff gehört in diese Reihe. Pozzo holte ihn vom damaligen Zweiligaabsteiger Ascoli - und Bierhoff wurde Torschützenkönig der Serie A, schoß Deutschland zum Europameistertitel und brachte Udinese mit seinem Wechsel zum AC Mailand damals beachtliche 12,5 Millionen Euro ein.

Neben dem Berliner Samardzic steht ein weiterer in Deutschland geborener Spieler in den Reihen der Überraschungsmannschaft der Serie A. Tolgay Arslan, früher unter anderem für den HSV in der Bundesliga aktiv, wechselte, schon im Herbst seiner Karriere, zu Udinese, nach lange erfolgreichen Jahren in der Türkei. Auch dies ist durchaus ein Udine-Muster.  Den jungen Talenten im Team werden erfahrene Spieler zur Seite gestellt, die bei anderen Klubs etwas ins Abseits geraten sind, denen sie in Udine aber einen erneuten Aufschwung zutrauen.

Partnerschaft mit Watford

Und dann gibt es da noch den Austausch zwischen den beiden Pozzo-Klubs Udinese und Watford. Über 50 Spieler wechselten in den vergangenen elf Jahren in die eine oder in die andere Richtung. Immer mit dem Ziel, den jeweiligen Kicker dort zu platzieren, wo er für den jeweiligen Klub und die eigene Entwicklung am besten aufgehoben ist.

Prägnantes Beispiel ist Gerard Deulofeu, der derzeit unumstrittene Star Udineses. Ein technisch hochbegabter Zehner, der schon beim FC Barcelona und der AC Mailand spielte und dann nach Watford ging. Als er dort 2020 absteigen musste, öffneten sie ihm in der Pozzo-Welt die Türen in Udine - und der Spanier glänzt seitdem und besonders in dieser Saison mit überragenden Vorstellungen.

Weitere Leistungsträger sind Torjäger Beto (von Portimonense aus den Tiefen der portugiesischen Liga geholt), Dribbelkünstler Roberto Pereyra (ebenfalls nach dem Abstieg aus Watford gekommen), der argentinische Abwehr-Jungstar Nehuen Perez sowie der erst 19-jährige, überragend schnelle Außenbahnspieler Destiny Udogie (U21-Nationalmannschaft Italiens). Tottenham hat Udogie bereits für 18 Millionen Euro verpflichtet, ihn für diese Saison aber noch in Udine gelassen. Dass der Brasilianer Walace, beim HSV und Hannover 96 eher mäßig erfolgreich, in der derzeitigen Überraschungsmannschaft Italiens als bestimmender Mann im defensiven Mittelfeld agiert, ist ein weiterer Beweis, dass in Udine Spieler eher besser als schlechter werden.

Gegner Bergamo hat ähnliche Philosophie

Udinese hat mit seinem aggressiven 3-5-2 in dieser Saison auch etablierte Spitzenteams dominiert, unter anderem Inter Mailand 3:1 geschlagen und Jose Mourinhos AS Roma mit 4:0 nach Hause geschickt. Der jetzige Gegner Atalanta Bergamo verfolgt seit langem eine ähnliche Philosophie wie Udinese: Stars entwickeln, nicht kaufen. Und hat es damit einige Jahre nacheinander in die Champions League geschafft und ist Stammgast in der Spitzengruppe der Serie A geworden. So ähnlich sieht der Traum aus, den sie gerade in Udine träumen. Und von dem sie hoffen, dass er auch dieses Wochenende weitergeht.