Englands Nationaltrainerin Sarina Wiegman

Englische Trainerin wird gefeiert Sarina Wiegman - bereit, Geschichte zu schreiben

Stand: 30.07.2022 08:16 Uhr

Ganz England ist sicher: "Am Sonntag holen wir in Wembley den EM-Titel!" Die Nation glaubt an die Fußballerinnen - vor allem aber an die Trainerin.

Von Olaf Jansen

Möglicherweise ist Sarina Wiegman gar nicht bewusst, in welcher Lage sie sich gerade befindet. Ihr Team, die englische Frauen-Nationalmannschaft, steht vor einem Erfolg mit historischer Dimension: Sollten die Engländerinnen am Sonntag (31.07.2022, 18.00 Uhr MESZ/live im Ersten und bei Sportschau.de) das EM-Finale gegen Deutschland gewinnen, wäre es der erste Titel für den englischen Fußball seit 1966, als in Wembley eines der berühmtesten Tore der Geschichte fiel.

"Überprüft ihre Pässe!"

Am Sonntag wird wieder Wembley der Schauplatz sein - fast 90.000 Fans werden dabei sein, wenn England nach drei verlorenen Halbfinals in Serie erstmals seit 2009 - damals gewann Deutschland 6:2 - wieder in einem großen Endspiel steht. So richtig glauben können sie das in England alles noch nicht. "Das ist kein England-Team wie jedes andere", schrieb der "Guardian" und fügte spaßeshalber an: "Schnell, überprüft ihre Pässe!"

Der Verdacht, die Trainerin sei sich der Bedeutung nicht bewusst, kommt unweigerlich bei näherer Betrachtung der 52-Jährigen auf. "Wir haben vor dem Turnier gesagt, dass wir die Nation inspirieren wollen, und ich glaube, das tun wir", stellte Wiegman mit der ihr eigenen Nüchternheit nach dem Halbfinale gegen Schweden (4:0) fest. Es ist schwer zu verstehen, wie man als Leitende Führungskraft in der derzeitigen Stress-Situation derart ruhig und gelassen bleiben kann. Und doch so konzentriert und planvoll. "Sie sagten: ‚Bist du bereit, Geschichte zu schreiben?' - Ich denke, das ist ein bisschen Geschichte", sagte sie auch noch.

Cool geblieben, Spiel gedreht

Gut, gegen die Schwedinnen im Halbfinale lief die Sache wie von selbst, nachdem Beth Mead nach einer guten halben Stunde zum 1:0 getroffen hatte. Anders lag die Sache aber im Viertelfinale gegen Spanien, als die Engländerinnen noch kurz vor Schluss mit 0:1 hinten lagen.

Die meisten Trainer hätten vermutlich - zumindest innerlich - verrückt gespielt am Spielfeldrand. Sarina Wiegman blieb cool. Sie beratschlagte sich kurz mit Kapitänin Leah Williamson, schickte Abwehrchefin Millie Bright in die Sturmspitze und wechselte zweimal. Wie zwangsläufig hatten diese Maßnahmen Erfolg - England spielte in völlig verändertem Modus - und gewann das Match.

"Haben immer einen klaren Plan"

"Man kann sie gar nicht genug loben", sagt Stürmerin Beth Mead, die bereits sechs Turniertore auf dem Konto hat. "Wir haben immer einen ganz klaren Plan. Und immer einen Plan B, C und D in der Tasche, wenn es nicht so läuft."

Sarina Wiegman (r.), Trainerin der englischen Frauen-Nationalmannschaft,  sitzt neben ihrem Assistenten Arjan Veurink auf der Bank.

Immer einen Plan B in der Tasche: Wiegman und ihr Trainerteam

Schon bei ihrem Amtsantritt in England im September 2021, als sie das Amt von Phil Neville übernahm, kündigte Wiegman an, das Team auf eine ganz andere Stufe heben zu wollen. Das war ihr vorher schon mit dem niederländischen Team gelungen, das sie 2017 zum EM-Titel im eigenen Land geführt hatte. Sie könnte nun die erste nicht-deutsche Trainerin werden, die einen EM-Titel verteidigt.

Schwere Zeiten für Wiegman

Dabei war es für Wiegman wahrlich keine leichte Zeit. Nur einen Monat vor der Euro 2022 starb ihre Schwester - sie nahm sich nur eine Woche Zeit, um mit ihrer Familie zu trauern. Damals sagte Wiegman, es zeige, "wie eng" die Gruppe zusammengewachsen sei, als die Spielerinnen fragten, ob sie im ersten Freundschaftsspiel nach der Schocknachricht Trauerbänder tragen könnten. Sie fügte hinzu: "Sie sind so großartige Menschen und es zeigt, wie nah wir uns stehen. Es war eine großartige Geste und ich bin sicher, meine Schwester wäre stolz gewesen."

Russo - die, die immer trifft

Für das englische Team hat sie sich schon vor dem Turnier auf eine taktische 4-2-3-1-Formation und eine immer gleiche Startelf festgelegt, die sie durch Wechsel klug verändert. Das beste Beispiel mag Alessia Russo sein: In der Angriffsmitte beginnt stets Ellen White, Englands Rekordtorschützin.

England tanzt, feiert und steht im Finale

Mittagsmagazin, 27.07.2022 10:27 Uhr

Russo ist bisher immer eingewechselt worden - und hat stets ganz neue Power gebracht. Sie ist mit vier Treffern in fünf Spielen hinter Beth Mead (sechs Tore, fünf Vorlagen) und Alexandra Popp (sechs Tore) die zweitbeste Torschützin dieser EM. Seit 19 Partien ist England unter Wiegman nun unbesiegt und hat dabei 104 Tore geschossen. Eine schlicht großartige Bilanz.

Der Spaß ist zurück

Wiegman, die als Spielerin einst gefürchtete Kämpfernatur im defensiven Mittelfeld war und über 100 Länderspiele für die Niederlande machte, hat neben einem klaren Spielplan und deutlichen taktischen Vorgaben offensichtlich aber auch den Spaß zurück ins englische Team gebracht.

Die Trainerin von England Sarina Wiegman jubelt nach dem Schlusspfiff.

"Macht Party!" - Sarina Wiegman

"Feiert jetzt, aber richtig", forderte sie von ihren Spielerinnen schon nach dem Spanien-Spiel, als sie selbst nach einer Corona-Infektion wieder am Spielfeldrand hatte Platz nehmen dürfen. Die Party setzte sich nach Halbfinale fort. "Ich hab fast mehr Luft in der Kabine gebraucht, als vorher im Spiel", erklärte Beth Mead. Neben Singen und Tanzen gehören Pizza und Kuchen zu den festen Bestandteilen Englands nach dem Spiel. Und ganz England hofft, dass dies alles auch nach dem Finale am Sonntag gegen Deutschland wieder gebraucht wird.

Dieses Thema im Programm: Das Erste | Sportschau | 31.07.2022 | 17:30 Uhr