Christiano Ronaldo auf der Bank

FIFA WM 2022 Darum ist Portugal ohne Ronaldo noch besser

Stand: 09.12.2022 19:13 Uhr

Es war lange undenkbar, bei der WM 2022 in Katar wird es zur Realität: Portugal ist ohne Cristiano Ronaldo besser als mit Cristiano Ronaldo und dank der jungen Wilden ein Titelkandidat. Die Degradierung des Superstars ist dennoch gefährlich.

Als die lautstarken Forderungen des Publikums nach ihrem Idol endlich erhört wurden, mutierte selbst der portugiesische Haudegen Pepe zu einem einfachen Angestellten. Der 39-Jährige spurtete in der 73. Minute des WM-Achtelfinals gegen die Schweiz (6:1) kurz vor der Einwechslung von Cristiano Ronaldo zur Seitenlinie und streifte seinem Kapitän noch vor Betreten des Platzes die Binde über den Arm. Klare Botschaft: Ronaldo ist noch immer der Boss.

Dass Ronaldo im ersten Spiel der K.o.-Runde erst beim Stand von 5:1 mitwirken durfte und ihm andere mittlerweile den Rang abgelaufen haben, gehört zur ganzen Wahrheit aber auch dazu. Ronaldo ist der Boss und der Anführer Portugals, die vielen internationalen Fans bei der WM in Katar lieben und feiern ihn. Sportlich ist der Superstar aber nur noch ein Auslaufmodell.

Santos braucht Ronaldo nicht mehr

"Ich wähle die Spieler aus, die zu meiner Strategie passen", begründete Portugals Nationaltrainer Fernando Santos nach der Partie seine Degradierung. Heißt: Ronaldo, der zuvor letztmals bei der EM 2008 bei einem großen Turnier nicht in der Startelf der portugiesischen Nationalelf gestanden hatte, gehört aktuell nicht mehr zu den elf besten Spielern des Kaders. Was für eine Entwicklung.

Bei der Europameisterschaft in Österreich und der Schweiz war er damals im bedeutungslosen letzten Gruppenspiel gegen die Schweiz geschont worden, im bedeutungsvollen Achtelfinale der WM in Katar gegen die Schweiz saß er wegen zu schlechter Leistungen auf der Bank. Irgendwann erwischt es also auch die selbsternannten Fußballgötter. "Ich bin eine Frucht, in die die Leute reinbeißen wollen. Wie eine Erdbeere", hatte Ronaldo kurz vor der WM bei Piers Morgan getönt. Inzwischen muss man sagen: Ganz frisch ist diese Erdbeere nicht mehr.

Portugal wirkt ohne Ronaldo wie befreit

Rein sportlich erinnerte Ronaldos Abwesenheit bei Portugal an das Lösen eine Handbremse. Nachdem sich in den Gruppenspielen stets alles um Ronaldo gedreht hatte und das Spiel weitgehend auf die Nummer sieben, die inzwischen nur noch eine in die Jahre gekommene Nummer neun ist, zugeschnitten war, wirkte Portugals Offensive ohne ihren Fixpunkt wie befreit. Die Achse um Bruno Fernandes, Bernardo Silva, Otavio und Joao Felix gehört zur talentiertesten Mittelfeld-Reihe des Turniers. Ohne Ronaldo demonstrierte sie endlich ihr ganzes Können.

Ramos kommt und trifft dreifach

Statt ständig Ronaldo, der jeden Ball fordert, mit Flanken auf den Kopf oder Pässen in die Tiefe zu bedienen, zeigte die portugiesische Offensive gegen die Schweiz die gesamte Nomenklatur ihrer Fähigkeiten. Mit viel Tempo, viel Spielwitz und unzähligen Ideen stellten die Portugiesen die Schweizer Defensive vor unlösbare Aufgaben und spielten sich in einen wahren Rausch.

Dass Ronaldos Vertreter Goncalo Ramos, der zum ersten Mal in seiner noch jungen Karriere in der Startelf stand, direkt einen Dreierpack schnürte, rundete das Bild ab. Ronaldo ist die Vergangenheit, im aktuellen Team steckt viel Zukunft.

Auch Manchester war besser ohne Ronaldo

Ein Trend, der sich auch mit Zahlen belegen lässt. Ronaldos Ex-United-Teamkollege Fernandes ist mit drei Vorlagen und zwei Toren der zweitbeste Scorer des gesamten Turniers hinter Kylian Mbappé. Auf Platz drei folgt Debütant Ramos (3 Tore, 1 Vorlage), auch Youngster Felix hat mit einem Tor und zwei Vorlagen entscheidenden Anteil am Viertelfinal-Einzug. Der Arbeitsnachweis von Ronaldo bislang: ein Elfmeter-Tor. Dass selbst sein Ex-Club Manchester United ohne ihn (22 Punkte in zehn Spielen) besser performte als mit ihm (vier Punkte in vier Spielen) ist ein Zeichen.

Nun ist es natürlich nicht so, dass Ronaldo über Nacht das Fußballspielen verlernt hat. Es ist auch alles andere als ausgeschlossen, dass er in diesem Turnier noch einmal wichtig wird. Die Jahre der Abhängigkeit von seinen Toren sind aber vorbei. Ronaldo ist ein Teil des Kaders, der mit Abstand prominenteste. Das Team funktioniert ohne ihn aber besser.

Wollte Ronaldo abreisen?

Spannend wird nun zu beobachten, ob und wie Ronaldo seine neue Rolle annimmt. Im Spiel gegen die Schweiz sah man ihn auf der Bank hin und wieder lächeln, das Tor seines alten Spezis Pepe feierte er gemeinsam mit dem Team an der Eckfahne. Nach Abpfiff trollte er sich jedoch mit versteinerter Miene nach kurzer Ehrenrunde in die Kabine. An den ausgelassenen Feierlichkeiten seiner Mannschaftskameraden beteiligte er sich nur spärlich. "Jeder ist sauer, wenn er nicht spielt, das ist normal", versuchte Otavio am Donnerstag die Wogen zu glätten: "Alles war normal, es gab keinen Streit. Wir halten zusammen."

Da wenig später auch noch Gerüchte die Runde machten, dass Ronaldo so gekränkt sei, dass er das Team und die WM vorzeitig verlassen wolle, sah sich selbst der Verband zu einer Stellungnahme gezwungen. Ronaldo habe "zu keinem Zeitpunkt damit gedroht", aus Katar abreisen zu wollen, hieß es in einer Mitteilung. Klare Botschaft: Es gibt keinen Zwist, alle halten zusammen.

Portugal gewann ohne Ronaldo den EM-Titel

Klar ist, dass der Ronaldo, der sich bei Manchester United bis zum Rauswurf gestänkert hatte, ein anderer Ronaldo ist als der, der unbedingt mit Portugal den WM-Titel holen will. Die Verbindung Ronaldos zur Nationalelf ist eine besondere, sein heroischer Einsatz als "Co-Trainer" beim EM-Finale 2016 bleibt unvergessen. Dennoch kommen die Störgeräusche zur Unzeit.

Die Vorbereitung auf das Viertelfinale am Samstag (10.12.2022) gegen Marokko wird überlagert von den Diskussionen um Ronaldo, es vergeht keine Pressekonferenz ohne Frage zur Zukunft des Superstars. Erst bestimmte sein möglicher Wechsel mit 200-Millionen-Euro-Gehalt nach Saudi Arabien die Schlagzeilen, jetzt seine Degradierung.

Abseits des Platzes ist Ronaldo weiter die zentrale Person, auf dem Platz sind es andere. Wenn das auch der Superstar einsieht, kann Portugal davon nur profitieren.