Neymar im brasilianischen Trikot.

FIFA WM 2022 Neymar, das kleine Gelbe und Brasiliens Zerrissenheit

Stand: 23.11.2022 21:00 Uhr

Neymar ist der berühmteste aktive Fußballer Brasiliens - und er steht wie kein anderer für die Zerrissenheit des Landes. Auch seinetwegen tragen heutzutage Anhänger des rechtsextremen Präsidenten Bolsonaro das weltberühmte gelbe Trikot. Dabei war es einst ein Symbol für den Zusammenhalt des ganzen Landes.

Kurz vor seinem Tod 2018 wünschte sich Aldyr Schlee, er hätte es nie erfunden, dieses Trikot, das die Menschen im armen, linksorientierten Nordosten ebenso leidenschaftlich überstreiften wie die im wohlhabenden, rechts geprägten Süden. Dieses Stückchen Stoff, das alle Brasilianer liebten - und dessen Kanariengelb zur Farbe der Zwietracht wurde.

Schlee war 19, als die Zeitung Correio de Manha aus Rio de Janeiro einen Wettbewerb für ein neues Trikot ausschrieb. Das war drei Jahre nach dem Maracanaço, dem Debakel bei der Heim-WM 1950, als die Seleção unerwartet gegen Uruguay verloren hatte. Das traditionelle Weiß, in dem sie sich blamiert hatte, sollte abgelöst werden.

Neymar im brasilianischen Trikot.

Neymar im brasilianischen Trikot.

Schlee, Journalist und Schriftsteller, schickte aus einer Laune heraus seine Idee ein: kanariengelbes Hemd, grüner Kragen, blaue Hose, weiße Stutzen. Alle vier Nationalfarben waren enthalten. "Und dann hatte ich das Pech, dass ich gewonnen habe", sagte er einmal gegenüber der Süddeutschen Zeitung.

Das kleine Gelbe hat seine Unschuld verloren

"A amarelinha", das kleine Gelbe, wie es liebevoll genannt wurde, war ein Symbol der Integration, des Zusammenhalts. Doch es hat längst seine Unschuld verloren. 2015/16 gingen hunderttausende Rechtskonservative auf die Straße, sie forderten die Absetzung der linksgerichteten Präsidentin Dilma Rousseff. Viele trugen das Trikot. Gelb als Farbe der Rechten gegen die Linken, die traditionell in Rot gekleidet sind. Im April 2016 wurde Rousseff suspendiert.

Bolsonaro-Anhänger tragen Gelb

Vor wenigen Tagen blockierten in Brasilien Anhänger des rechtsextremen Präsidenten Jair Bolsonaro Straßen und riefen vor Kasernen zum Militärputsch auf. Ihre Wut, ihr Hass, richtete sich gegen die Linken und die Stichwahl vor rund drei Wochen, die der linke Ex-Staatschef Luiz Inácio Lula da Silva knapp gegen Bolsonaro gewonnen hatte. Bolsonaros Partei ficht das Ergebnis an, seine Anhänger protestieren. Viele von ihnen tragen das kleine Gelbe - das Bolsonaro-Trikot.

Neymar als Wahlkämpfer für Bolsonaro

Bolsonaros berühmtester Fürsprecher ist Superstar Neymar. Im Wahlkampf veröffentlichte er ein Video auf TikTok, in dem er ein Tänzchen aufführt und mit seinen Fingern die 22 in die Kamera zeigt - die Zahl, unter der Bolsonaro bei der Wahl antrat. Außerdem kündigte der Offensivspieler an, dem zu diesem Zeitpunkt noch nicht abgewählten Präsidenten sein erstes Tor bei der WM in Katar zu widmen. "Das wäre wirklich wunderbar: Bolsonaro wiedergewählt, Brasilien Champion und alle glücklich", sagte er.

Auch in einer gemeinsamen Online-Sendung mit Bolsonaro erklärte er seine Unterstützung: "Ich möchte mich beim Präsidenten bedanken. Im schwersten Moment meines Lebens war der Präsident der Erste, der sich öffentlich hinter mich gestellt hat." Was genau er meinte, sagte er nicht. Viele Brasilianer sind gespannt, ob Neymar eine politische Botschaft sendet, wenn die Mannschaft am Donnerstag (24.11., 20 Uhr MEZ) gegen Serbien ins Turnier startet.

Ein Unterstützer des brasilianischen Präsidenten Bolsonaro sitzt in einem Auto mit einem Neymar-Foto auf der Motorhaube.

Ein Unterstützer des brasilianischen Präsidenten Bolsonaro sitzt in einem Auto mit einem Neymar-Foto auf der Motorhaube.

Bolsonaro und Neymar - ihre gemeinsame Geschichte

2019 war der Vater des Fußballers zu Beginn der Amtszeit Bolsonaros in den Präsidentenpalast geladen worden. Es gibt unterschiedliche Gerüchte darüber, was die beiden zu besprechen hatten und wieso der Fußballer sich beherzt für den Präsidenten einsetzt. Neymar war im selben Jahr von einem Model der Vergewaltigung beschuldigt worden. Bolsonaro hatte sich von Neymars Unschuld überzeugt gezeigt. Später wurde das Ermittlungsverfahren aus Mangel an Beweisen eingestellt.

Bolsonaros Rivale Lula vermutete vor der Wahl andere Gründe: "Ich glaube, er hat Angst, dass ich im Falle eines Wahlsiegs herausfinde, was Bolsonaro ihm an Einkommenssteuerschulden erlassen hat." Gegen den Superstar wird seit Jahren wegen Steuerhinterziehung in Millionenhöhe ermittelt. Beweise, dass Bolsonaro Neymar Steuerschulden erlassen und sich so seine Unterstützung erkauft hat, gibt es nicht. Lula hat aber angekündigt, in seiner Amtszeit Geheimnisse zu lüften.

Kampf gegen Rassismus

Sport inside, 19.11.2022 14:00 Uhr

Ronaldinho, Romario, Rivaldo bekennen sich zu Bolsonaro

Ob es Neymar tatsächlich nur um sehr viel Geld geht? Der Superstar hat immer wieder gezeigt, dass er Bolsonaro aus Überzeugung unterstützt. Vor der Wahl sagte er, er unterstütze dessen Werte. Bolsonaro äußert sich immer wieder frauenfeindlich und homophob, er hetzt gegen ethnische Minderheiten wie Indigene und Afrobrasilianer, er lehnt die Demokratie ebenso ab wie eine pluralistische Gesellschaft.

Auch ehemalige Superstars wie Ronaldinho, Romario, Robinho, Cafu und Rivaldo haben sich für Bolsonaro stark gemacht. Niemand aber bekennt sich so freudig dazu, ein bolsonarista zu sein. Der Verband und Nationaltrainer Tite hatten gefordert, Politik aus dem Fußball rauszulassen. Neymar hat sich nicht daran gehalten.

Verbandspräsident Ednaldo Rodrigues sagte jüngst: "Das Trikot der Seleção gehört allen Brasilianern, nicht dem einen oder anderen. Es gehört vor allem denjenigen, die damit brasilianische Fußballgeschichte geschrieben haben."

Viele Brasilianer tragen blau

Schlee, der Erfinder des kleinen Gelben, ist im November 2018 gestorben - rund zwei Wochen, nachdem Bolsonaro die Wahl gewonnen und seine Anhänger im gelben Trikot gefeiert hatten. Für die politische Instrumentalisierung des "amarelinha" hat Schlee sich immer geschämt. Vielen Brasilianern geht es genauso. Sie tragen nur noch den Auswärtsdress, er ist blau.