John Herdman gegen Belgien

FIFA WM 2022 Kanadas Coach Herdman - aus der Sozialwohnung zur WM

Stand: 26.11.2022 21:49 Uhr

Sein Vater war depressiv, seine Mutter trank. Er selbst wurde in seiner Kindheit fast totgeprügelt. Und trotzdem ist Kanadas WM-Nationaltrainer John Herdman ein brillanter Motivator geworden.

Noch bevor Kanada das erste Spiel der WM-Qualifikation bestritt, hatte John Herdman seinen Spielern Geschenke mit prophetischem Charakter überreicht: Titelseiten kanadischer Zeitungen, auf denen sie für die historische WM-Teilnahme in Katar gefeiert wurden. Herdman hatte sie entworfen, um seinen Spielern zu zeigen, was auf sie zukommen würde, wenn sie ihm folgten. Sie könnten Helden werden - das erste kanadische Nationalteam nach 36 Jahren, das bei einer WM dabei ist.

Kanadas Coach Herdman und seine Gabe, Spieler zu motivieren

Herdman, 47, ist ein Motivationskünstler. Das sagen viele, die unter ihm gespielt haben. "Dieser Mann hat etwas, was viele Trainer nicht haben und das ist die Fähigkeit, eine wirkliche Verbindung zu den Spielern zu schaffen und das Beste aus ihnen herauszuholen. Das kann man nicht lernen, das ist eine Gabe", sagte Ex-Nationalspielerin Melissa Tancredi.

"Jedes Mal, wenn John mit dem Team spricht, gibt er mir das Gefühl, das ich durch eine Wand rennen kann", sagte Superstar Alphonso Davies. Und Nationaltorhüter Milan Borjan antwortete nach der erfolgreichen WM-Qualifikation auf die Frage, was das Geheimnis der Mannschaft sei: "Ich kann nur zwei Worte sagen: John Herdman."

Zoff vor dem Duell zwischen Kanada und Kroatien

Manchmal übermannen den gebürtigen Engländer seine Gefühle. Nach dem 0:1 gegen Belgien im ersten WM-Gruppenspiel machte er seinen Spielern deutlich, dass sie bei dieser WM genau richtig seien.

Ihm rutschte dabei ein "Fuck Croatia" raus, das beim nächsten Gegner nicht gut ankam. Die kroatische Zeitung "24 Sata" heizte das Aufeinandertreffen (27.11.2022, 17.00 Uhr) mit der Fotomontage eines nackt abgebildeten Herdman an. Über seinen Mund war ein großes Ahornblatt gedruckt, über sein Geschlechtsorgan ein kleines. "Du hast das Mundwerk, aber hast du auch die Eier?", fragte die Zeitung auf dem Titel.

Die Replik aus Kanada kam prompt. "Unsere Eier sind größer", twitterte die "Toronto Sun", eine der größten Zeitungen des Landes, und sprang dem beliebten Nationaltrainer zur Seite.

Nötig gewesen wäre das wohl gar nicht. Denn Herdman reagierte ohnehin mit Humor: "Ich habe ein wenig mehr Bauch als auf dem Foto. Ich habe zu viel gegessen." Er kann austeilen und er kann einstecken.

Herdman hatte im Norden Englands eine schwierige Kindheit

Gelernt hat er das früh. Herdman ist in Consett aufgewachsen, einer Arbeiterstadt im Nordosten Englands, die von der Stahlindustrie lebte. "Fucking tough" müsse man sein, um sich dort durchzusetzen. Als in den 80ern die Stahlfabrik, in der sein Vater gearbeitet hatte, schließen musste, verlor die Familie ihre Lebensgrundlage. Sein Vater, der ihn als kleiner Junge ins Stadion von Newcastle United mitgenommen hatte, wurde depressiv. Seine Mutter begann zu trinken. Sie ließen sich scheiden.

John war oft allein, zog durch die Straßen, provozierte, schlug zu und wurde einmal von einer Drogen-Dealer-Clique fast totgeprügelt. Er, der immer der Kleinste war und bis heute nicht über 1,65 Meter hinausgewachsen ist, zog nie zurück. Weglaufen? "Nie weglaufen!"

John Herdmans Lehren aus dem Leid

Diese Zeit habe ihn viel gelehrt. "Frage niemanden nach etwas, nimm von niemandem etwas, mach einfach weiter. Mach einfach weiter. Ich habe einen sehr starken Willen. Und wenn ich von einer Sache überzeugt bin, gebe ich mein Leben dafür."

Mit 16 zog er allein in eine Sozialwohnung und belegte erste Trainerseminare. Später studierte er Sportwissenschaft und unterrichtete an einer Grundschule. Nebenbei eröffnete er eine kleine Fußballakademie. Die Kinder ließ er zu brasilianischer Samba-Musik spielen, damit sie lernten, sich frei mit dem Ball zu bewegen. Seine neuen Ansätze und seine Fähigkeit, junge Spieler zu entwickeln, sprachen sich rum.

Der AFC Sunderland engagierte ihn, um die Kinder bis neun Jahre zu trainieren. Selbst Profi war er aber nicht. Ein ehemaliger englischer Nationalspieler gab ihm deshalb zu verstehen, dass er es nie bis nach oben schaffen würde. Er kenne das Gefühl nicht, vor 50.000 Fans zu spielen. "Das war ein Schlag ins Gesicht", sagte Herdman. Und ein Antrieb. Er wollte immer allen beweisen, dass er es doch kann.

Nationaltrainer der Frauen in Neuseeland und Kanada

Bei Sunderland sah er keine Zukunft. Und weil ihn auch sonst nichts in England hielt, folgte er dem Ruf eines seiner ehemaligen Uni-Professoren, der in Neuseeland lehrte. Auch dort machte er sich einen Namen und übernahm schon bald die Nationalmannschaft der Frauen, mit der er an zwei Weltmeisterschaften teilnahm (2007 und 2011).

Olympia-Bronze 2012 und 2016

2011 zog er nach Kanada weiter. Mit der kanadischen Frauennationalelf qualifizierte er sich für die WM 2015 und kam überraschend bis ins Viertelfinale. 2012 und 2016 holte er mit seinen Spielerinnen bei den Olympischen Spielen überraschend Bronze.

Der Höhepunkt mit Kanadas Männern - und der Tod seiner Schwester

2018 bat ihn der Verband, die Nationalmannschaft der Männer zu übernehmen. Er solle die Mannschaft auf die Heim-WM 2026 vorbereiten. Doch Herdman machte seinen neuen Spielern früh klar, dass sie schon 2022 bei einer WM dabei sein werden. Im März dieses Jahres hat die Mannschaft die Qualifikation perfekt gemacht - vor Mexiko, den USA und Costa Rica.

Zwei Monate später starb Herdmans Schwester. Wie der Vater hatte auch sie mit psychischen Problemen zu kämpfen. Ihr Tod hat ihn erschüttert. Er war nicht da, er wünschte sich, er wäre da gewesen. Er war wieder leer, wie früher. Im Juni streikten dann noch seine Spieler gegen den Verband, es ging um Anerkennung, Gleichberechtigung, Geld. "Ich war fertig. Emotional, mental." Aber er ist aufgestanden, wieder einmal.

1986 in Mexiko war Kanada erstmals bei der WM

1986, Herdman war damals zehn Jahre alt, saß er gemeinsam mit seinem Vater vor dem Fernseher und schaute die WM in Mexiko. "Ich sah Maradona spielen und verliebte mich in den Fußball." Es war auch die WM, bei der Kanada zum ersten und bis 2022 einzigen Mal dabei war. Ohne Tor und Punkt schied die Mannschaft aus. Melissa Tancredi, die einst unter Herdman spielte, ist sich sicher, dass er mit dem ersten Punktgewinn Geschichte schreiben wird: "John ist für diese Turniere gemacht. Er hat das alles schon durch, er kennt den Druck."

Herdman hat vor der WM gesagt, er werde das Turnier einfach nur genießen. Die Zeit, in der er es allen beweisen wollte - seinen Eltern, seinen Kritikern, sich selbst - ist vorbei.