HSV-Trainer Merlin Polzin feiert den Aufstieg.

Hollywood lässt grüßen Wie Merlin Polzin den HSV verzauberte

Stand: 10.05.2025 22:54 Uhr

Merlin Polzin hat den HSV nach sieben Jahren zum Wiederaufstieg in die Fußball-Bundesliga geführt. Der 34-Jährige hat damit das nächste erstaunliche Kapitel in seiner bereits jetzt filmreifen Geschichte als Trainer geschrieben. Ohne eine niederschmetternde Diagnose wäre der Lebensweg des gebürtigen Hamburgers dabei vermutlich ganz anders verlaufen.

Von Hanno Bode

Es ist ein gewohntes Bild bei Trainingseinheiten des HSV: Während sich die Spieler unter der Anleitung von Athletiktrainer Jan Hasenkamp aufwärmen, jongliert Merlin Polzin mit dem Ball. 20, 30 Mal hält er das Spielgerät mühelos hoch. In diesen Momenten ist zu sehen, dass aus dem 34-Jährigen wohl ein sehr guter Fußballer hätte werden können. Bis in die Oberliga-Mannschaft seines Jugendclubs Bramfelder SV hatte es Polzin 2010 schon geschafft, galt dort als kommender Mann in der Verteidigung. Dann aber tauchte das Defensiv-Talent von heute auf morgen ab.

Wochenlang versuchten die BSV-Verantwortlichen, den vormaligen Kapitän ihrer A-Jugendmannschaft zu erreichen. Vergeblich. Nachdem ihm ein Arzt eröffnet hatte, seine Laufbahn wegen Arthrose in den Zehen beenden zu müssen, brach für Polzin eine Welt zusammen.

Aus als Spieler ein Glücksfall für den Trainer Polzin

"Mir wurde das Wichtigste im Leben geraubt. Ich darf kein Fußball mehr spielen", schrieb er später bei Facebook, wie sich der damalige Bramfelder Co-Trainer Matthias Herzberg in der "Bild" erinnerte. "Es kam das Blödeste für ihn, was ihm damals passieren konnte. Jetzt im Nachhinein ist es positiv", ergänzte der heutige Sportliche Leiter des Vereins mit Blick auf die frühen Anfänge von Polzins Trainer-Karriere.

Dieser konnte er sich nach seinem Aus als Spieler schon mit 19 Jahren widmen. 15 Jahre später hat sich der Bramfelder Jung' - er spielte nie bei einem anderen Club - bei den HSV-Fans durch den Aufstieg unsterblich gemacht. Sein Vertrag verlängerte sich zudem durch den Sprung nach oben automatisch um ein Jahr.

Vom Fan zum Aufstiegscoach

Dass ausgerechnet ein Hamburger und glühender HSV-Anhänger, der früher selbst in der Kurve des Volksparkstadions das Team anfeuerte, die siebenjährigen Leidenszeit des stolzen Traditionsclubs in Liga zwei beendete, ist eine Cinderella-Story. Denn wären die HSV-Verantwortlichen den üblichen Gesetzmäßigkeiten des Profifußballs gefolgt, wäre Polzin längst rausgeflogen. Schließlich ist es Usus, dass bei einer Entlassung eines Cheftrainers auch dessen Assistenten beurlaubt werden.

Doch Polzin, den Daniel Thioune 2020 als Co-Trainer vom VfL Osnabrück mit an die Uwe-Seeler-Allee gebracht hatte, war in den folgenden Jahren die Konstante im HSV-Staff. Während die Fußballlehrer Thioune, Tim Walter und Steffen Baumgart ihrer Aufgaben entbunden wurden, durfte er bleiben.

Ex-Vorstand Boldt als großer Förderer

"Er ist als Mensch, aber auch als Trainer über die Jahre kontinuierlich gereift und hat sehr große Schritte nach vorn gemacht. Ich habe schnell gemerkt, dass er ein großes Trainertalent ist, doch sein Weg ist noch lange nicht zu Ende", sagte der frühere Sportvorstand Jonas Boldt über den damaligen Co-Trainer.

Es war in der Rückschau eines der größten Verdienste des nicht unumstrittenen Funktionärs, stets die schützende Hand über Polzin gehalten zu haben. Somit blieb dem Club nicht nur ein Mitarbeiter mit extrem hoher Identifikation für seinen Arbeitgeber erhalten, sondern auch ein sehr begabter Coach, der stets bemüht ist, seinen Horizont zu erweitern und der Mannschaft so neuen Input zu geben.

Thioune öffnet Polzin die Tür zum Profifußball

Im positiven Sinne wandelt der 34-Jährige dabei auf den Spuren von "Zettel Ewald". Also dem routinierten Coach Ewald Lienen, der seinen Spitznamen wegen seiner Vorliebe für Notizen auf einem Schreibblock erhielt. Auch Polzin hält schriftlich fest, war er als relevant für seine Arbeit erachtet. Nicht am Spielfeldrand, aber zu Hause. Inzwischen ist einiges an Papierkram zusammengekommen. Gerade im vergangenen Jahr während seiner Ausbildung zum Fußballlehrer. Dabei hospitierte er unter anderem beim FC Barcelona und dessen deutschem Coach Hansi Flick.

Möglicherweise hat Polzin die dort gesammelten Erfahrungen schon in seine Arbeit beim HSV einfließen lassen. Denn: "Er saugt unheimlich viel auf und transportiert es in die Mannschaft. Das kommt gut an", sagte Thioune über seinen früheren Co-Trainer. Der heutige Coach von Fortuna Düsseldorf hat großen Anteil an der steilen Karriere des Hamburger Aufstiegstrainers. Denn er war es, der Polzin 2014 die Tür zum Profifußball öffnete.

Aufstieg mit dem Osnabrücker Profiteam

Die Geschichte dahinter? Verrückt! Denn nachdem Polzin des Studiums wegen nach Osnabrück gezogen war, schaute er einfach mal beim B-Jugend-Training des VfL vorbei und bot Thioune an, der das Team seinerzeit betreute, für ihn Spielbeobachtungen zu machen. Das Scouting des Lehramt-Studenten (Deutsch und Sport) überzeugte Thioune. Er nahm Polzin in seinen Trainerstab auf.

Nach gemeinsamer Arbeit bei der U17 und U19 übernahmen sie das Osnabrücker Profiteam, stiegen mit den Niedersachsen in die Zweite Liga auf (2019) und hielten in der Folgesaison die Klasse. Übrigens auch, weil am 32. Spieltag ein überraschendes 1:1 beim HSV gelang. Diese Punkte sollten den Hamburgern in der Endabrechnung im Kampf um den Aufstieg fehlen.

Polzin zunächst als Interimslösung gedacht

Es folgte der Wechsel von Thioune und Polzin in den Volkspark. Nun war Letzterer zurück in seiner Heimatstadt und zurück bei dem Verein, für den er sich seit Kindeszeiten begeistert. "Es ist in jedem Fall kein Job, sondern meine größte Leidenschaft, die ich glücklicherweise zum Beruf machen konnte", sagte er schon während seiner Zeit als Co-Trainer.

Umso mehr muss es ihn geschmerzt haben, dass sein HSV zweimal in der Relegation den Wiederaufstieg verpasste. Und dass sein HSV in der vergangenen Saison nur Vierter wurde und in dieser Serie wieder die Bundesliga-Rückkehr zu verspielen drohte, bis die Verantwortlichen Ende November des vergangenen Jahres die Reißleine zogen und den glücklosen Baumgart beurlaubten.

HSV unter Polzin kaum wiederzuerkennen

Polzin, der die Mannschaft nach dem Aus von Baumgart-Vorgänger Walter bei einem 2:2 beim FC Hansa Rostock schon einmal interimsmäßig betreut hatte, wurde erneut als Übergangslösung inthronisiert. Als Cheftrainer war der 34-Jährige zunächst nicht im Gespräch. Ruud van Nistelrooy, Friedhelm Funkel und vor allem Bruno Labbadia aber sehr wohl. Dann aber gewann der HSV das erste Spiel nach dem Baumgart-Aus beim Karlsruher SC mit 3:1 und war dabei kaum wiederzuerkennen.

Sportvorstand Stefan Kuntz wollte "die Welle nicht brechen" und entschloss sich, mit Polzin bis zur Winterpause weiterzumachen. Aus Überzeugung? Oder doch aus der Not heraus? Darüber wird in Hamburg bis heute gerätselt. Hartnäckig halten sich die Gerüchte, dass Kuntz mit Labbadia bereits in sehr weit fortgeschrittenen Gesprächen war, der Coach ihm aber letztlich absagte, weil ihm die Entscheidungsfindung zu lange dauerte.

Für Lukas Kwasniok vom SC Paderborn 07 soll der HSV sogar eine hohe Ablösesumme geboten haben. Kuntz bestätigte später lediglich, dass sich der Club mit anderen Trainern beschäftigt habe. Fakt ist: Kwasniok beklagte nach dem Jahreswechsel öffentlich, dass ihm sein Club eine große Chance verbaut habe.

Heuer Fernandes: "Merlin nimmt alle jeden Tag mit"

Diese erhielt dann Polzin. Nach zwei Siegen und zwei Remis als Interimstrainer wurde er kurz vor Weihnachten zum Chefcoach befördert. Die Mannschaft soll dem Vernehmen nach für diese Lösung bei Kuntz und Sportdirektor Claus Costa geworben haben.

"Merlin und sein Trainerteam haben uns als Mannschaft besser gemacht. Merlin nimmt alle jeden Tag mit. Wirklich alle. Dadurch fühlt sich jeder wertgeschätzt. Jeder will in seinem Bereich sein Maximum geben. Das gibt uns ein gutes Gefühl in der Kabine. Dadurch entsteht eine Energie, bei der sich alle angesprochen fühlen", lobte Keeper Daniel Heuer Fernandes den jungen Coach bald darauf über den grünen Klee.

"Harmonischer, homogener Umgang miteinander"

Doch nicht nur seine Spieler sind angetan von dem jungen Coach. "Er ist ein super Typ, total empathischer Mensch, der die Leute einfangen kann", sagte Daniel Brinkmann im Podcast "Im Kopf des Trainers".

Der Übungsleiter des Drittligisten FC Hansa Rostock hat mit Polzin den Fußballlehrer-Lehrgang absolviert und war vor einigen Wochen auf Stippvisite beim HSV. Dabei machte er eine Beobachtung, die ihm imponierte: "Du merkst es einfach im Umgang mit den anderen Staff-Mitgliedern. Es ist ein sehr harmonischer, homogener Umgang miteinander. Und ich glaube, dass er auch dafür steht, diese Verbindung zu schaffen und diese Moderation aktuell sehr, sehr gut hinbekommt."

Keine Angst vor unbequemen Entscheidungen

Brinkmanns Erkenntnis deckt sich mit den Aussagen von Polzin. Niemals redet der 34-Jährige in der Ich-Form. Sein Lieblingswort ist "Staff". Mit seinen Assistenten Loïc Favé (32 Jahre) und Richard Krohn (29 Jahre) bildet er ein extrem junges Trainer-Team, das auf Augenhöhe agiert. Wer das Trio bei den Übungseinheiten beobachtet, sieht drei sehr konzentrierte, aber auch lockere Zeitgenossen, die offenbar die Sprache der Spieler sprechen.

Respekt verschafft haben sich der vormalige Co-Trainer Polzin sowie der als U21-Coach in die Serie gestartete Favé und Krohn, der vorher Assistent im Regionalliga-Team war, aber auch durch harte Entscheidungen. Da wären die Suspendierungen von Moritz Heyer (inzwischen bei Fortuna Düsseldorf) und Uwe-Seeler-Enkel Levin Öztunali, der Rauswurf des früheren Atheltik-Trainers Daniel Müssig sowie die Degradierung von Kapitän Sebastian Schonlau zum Ersatzspieler.

"Ich musste einfach auf Toilette, ich hab's nicht ausgehalten. Scheiß drauf, wir haben es geschafft. Der HSV ist wieder da!"
— Merlin Polzin, der in der Schlussphase des Spiels gegen Ulm plötzlich in der Kabine verschwunden war

Kuntz als Krisen-Manager erfolgreich

Maßnahmen, die umstritten waren und noch einmal hinterfragt worden wären, wenn der sportliche Erfolg ausgeblieben wäre. Und zwischenzeitlich hatte es ja nach den Pleiten gegen Eintracht Braunschweig (2:4) und dem Karlsruher SC (1:2) so ausgesehen, als könne der HSV auch unter Polzin das große Ziel Bundesliga-Aufstieg verfehlen.

Dann aber trat dem jungen Trainer der Mann zur Seite, der anfangs offenbar nicht ganz davon überzeugt war, dass Polzin schon die Reife für den Job hat: Stefan Kuntz. Der Sportvorstand machte sich als Psychiater verdient, sprach mit den verunsicherten Spielern über schwierige Situationen und gab ihnen Lösungsansätze mit auf den Weg.

"Die Erfahrung von Stefan tut uns gut. Er hat die richtigen Worte gefunden", lobte Torjäger Davie Selke den Europameister von 1996. Dem Angreifer war aber im selben Atemzug wichtig, zu betonen: "Auch das Trainer-Team hat uns überragend eingestellt."

HSV als Familie: "Versuchen, jeden Tag besser zu werden"

Polzin, Favé und Krohn dürfen sich ob solcher Lobgesänge geschmeichelt fühlen. Mit viel Fachwissen, Akribie und der richtigen Ansprache haben sie den HSV zurück ins Fußball-Oberhaus geführt. Und auch wenn in diesem Aufstieg fraglos ein gewisser Zauber liegt, will sich das Mastermind des Erfolges nicht als Zauberer sehen. Die errungenen Erfolge, sagte Polzin bereits vor dem geschafften Aufstieg, seien das Resultat des großen Einsatzes aller Mitarbeitenden - vom Trainer-Team bis hin zur Geschäftsstelle: "Wir versuchen alle, jeden Tag besser zu werden."

Mit diesem Ehrgeiz, seiner authentischen Art und Weise sowie der Stringenz in der Entscheidungsfindung ist es Polzin gelungen, nicht nur das bereits zuvor vorhandene gute Binnenklima zu bewahren, sondern auch für eine Verbesserung der Leistungskultur zu sorgen.

HSV-Trainer Merlin Polzin spricht nach dem Aufstieg zu den Fans.

(Junger) Vater des Aufstiegserfolgs: Merlin Polzin.

"Merlins Akribie und Leidenschaft für unseren Sport und unseren Verein sind beeindruckend. Darüber hinaus kommt Merlin mit seiner offenen, loyalen und positiven Art sehr gut bei den Spielern sowie den Kollegen im Staff an", sagt Sportdirektor Costa über den Mann, der vielleicht nie zum HSV-Aufstiegstrainer geworden wäre, wenn ihn die Arthrose im Zeh nicht frühzeitig zur Aufgabe seiner Spielerkarriere gezwungen hätte.

Dieses Thema im Programm:
Sportclub | 11.05.2025 | 22:50 Uhr