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Nach Niederlage im EM-Finale gegen England Ein "Nackenschlag" zu viel für das DFB-Team

Stand: 01.08.2022 09:41 Uhr

Die deutsche Nationalmannschaft hat England im Finale der Fußball-EM einen tollen Kampf geliefert. Und das, obwohl die DFB-Frauen erneut einigen Widerständen trotzen mussten. In die große Enttäuschung mischte sich mit ein bisschen Abstand zu Recht auch Stolz.

Von Florian Neuhauss (London)

Baby müsste man sein. Das verletzungsbedingte Fehlen von Alexandra Popp, das Handspiel von Englands Kapitänin Leah Williamson, die Diskussionen um den Videoassistenten und die ohrenbetäubend laute Party der Gastgeberinnen - all das bekam die Enkeltochter von Martina Voss-Tecklenburg nicht mit.

Während die Bundestrainerin am Spielfeldrand unter Starkstrom stand, Mutter Dina in der Fanschar auf der Haupttribüne mitlitt und Papa Kevin, der selbst Fußball-Profi ist, mit dem "Spucktuch" in der Hand immer wieder für ein paar Schritte das Stadioninnere verließ, wenn es noch mal lauter wurde, schlief das vier Monate alte Mädchen mit dem Lärmschutzkopfhörer einfach seelenruhig weiter.

Wenn wir ins Elfmeterschießen gekommen wären, wissen wir ja, wie es ausgegangen wäre.
Panagiotis Chatzialexiou, Sportlicher Leiter Nationalmannschaften

MVT: "Das war ein klares Handspiel"

Ganz so einfach ist es für Erwachsene natürlich nicht. MVT musste sich nach dem Schlusspfiff den Frust erst einmal von der Seele reden. "Das war ein klares Handspiel, das beschäftigt mich", kommentierte die 54-Jährige die Szene in der 26. Minute. Der Ball war der englischen Kapitänin im Strafraum an den ausgestreckten Arm gesprungen. Aber die Bilder mögen für die meisten Fernsehzuschauer noch so deutlich gewesen sein, der Videoassistent, der die Szene sogar überprüfte, erkannte keine klare Fehlentscheidung. Schiedsrichterin Kateryna Monzul aus der Ukraine bekam nicht das Zeichen, sich die Szene selbst noch einmal anzuschauen.

Besonders Letzteres erregte das Gemüt von Voss-Tecklenburg. "Wieso wird das nicht angeschaut? Warum gibt es keine klare Kommunikation? Auf dem Niveau, in einem Finale um die Europameisterschaft darf das nicht passieren. Man fühlt sich schon ein Stück weit benachteiligt", ärgerte sich die Bundestrainerin und forderte, dass diese Szene noch ausführlich besprochen werden müsse.

Popp: "Konnte keinen Pass spielen, nicht aufs Tor schießen"

Am zweiten großen Aufreger des Tages traf derweil niemanden eine Schuld. Popp hatte sich beim Abschlusstraining eine Zerrung zugezogen, die so schwerwiegend war, dass sie nach dem Aufwärmen für das Spiel passen musste. "Im letzten Training, beim letzten Schuss auch noch - das muss man auch noch dazu sagen. Da wieder einen solchen Nackenschlag zu bekommen, ist schon brutal", berichtete die deutsche Kapitänin, die mit Tränen in den Augen kapitulieren musste.

"Ich konnte keinen Pass spielen, der über eine längere Distanz geht, und nicht aufs Tor schießen. Da hat das Ganze einfach keinen Sinn gemacht", sagte die 31-Jährige, die Deutschland mit sechs Toren in fünf Spielen überhaupt erst ins Finale geführt hatte. "Mir war klar, dass wir in einem EM-Finale stehen und mit voller Kapelle auflaufen müssen. Es hatte keinen Sinn. In dem Moment kamen mir auch die Tränen, weil ich es nicht glauben konnte."

Zwei Europameisterschaften hatte Popp in ihrer Karriere verletzt verpasst, im Vorfeld der EM in England lange an einer schweren Knieverletzung laboriert und war nach einer Corona-Infektion schließlich doch noch rechtzeitig fit gewesen fürs Turnier in England.

Magull kann es den Engländerinnen auch gönnen

Auch ohne ihre Kapitänin und ohne die nach ihrer Corona-Infektion erst am Spieltag wieder negativ getestete Klara Bühl lieferten die DFB-Frauen England im Finale ein Duell auf Augenhöhe. Nicht auszudenken, wie die Partie mit zwei der beiden besten deutschen Spielerinnen bei diesem Turnier ausgegangen wäre. So reichte es nur zum zwischenzeitlichen 1:1 von Lina Magull, deren drittes Tor fast noch schöner war, als die beiden Treffer zuvor.

Die Engländerinnen haben genauso wie wir ein tolles Turnier gespielt. Es wäre schön, wenn es zwei Gewinner geben würde.
Lina Magull

"Der Frust überwiegt. Wir haben wieder ein tolles Spiel abgeliefert", sagte die Torschützin, die es den Engländerinnen nach eigener Aussage aber auch gönnen konnte: "Es ist für sie ein tolles Erlebnis, im Wembley-Stadion, zu Hause diesen Titel einzufahren. Sie haben genauso wie wir ein tolles Turnier gespielt. Es wäre schön, wenn es zwei Gewinner geben würde."

Gemischte Gefühle, aber Stolz auf die Silbermedaille

Popp zeigte sich "zutiefst traurig und enttäuscht, dass wir am Ende diesen Coup nicht geschafft haben. Aber wir haben insgesamt ein großartiges Turnier gespielt." Auch Magull betonte: "Wir sind in den letzten Monaten eine richtig geile Mannschaft geworden. Und darauf bin ich sehr stolz."

Um ihren Hals trug die Spielmacherin und neue Vize-Europameisterin in der Mixed Zone des Stadions ihre Silbermedaille. "Wir standen hier im Finale, was uns keiner zugetraut hat, was wir uns vielleicht auch selbst nicht zugetraut haben. Aber wir haben uns das so hart erarbeitet. Ich trage die Medaille mit Stolz." Am Ende war es wohl ein Nackenschlag zu viel für das Team, der den ganz großen Triumph verhindert hat.

Die Bundestrainerin hatte genauso wie ihre Spielerinnen gemischte Gefühle: "Ich muss das auch erst mal verarbeiten, das ist ja klar. Wir sind hier angetreten, um das Spiel zu gewinnen, haben es am Ende leider nicht geschafft. Aber morgen oder übermorgen gehe ich bestimmt schon mit einem anderen Gefühl in den Tag rein." Und vielleicht wird sie in einigen Jahren, wenn ihre Enkelin die Medaille in die Hände bekommt und nachfragt, alles erzählen, was die Kleine am 31. Juli 2022 verschlafen hat.