Viele Fans in Manchester bei dem Fußballspiel von England gegen Österreich

Fußballerinnen in Deutschland Zwischen Feigenblatt und "ganz oben auf der Agenda"

Stand: 10.07.2022 14:36 Uhr

Die Begeisterung bei der Fußball-EM in England will auch der DFB für mehr Sichtbarkeit bei den Frauen nutzen. Schließlich soll die Weltmeisterschaft 2027 auch in Deutschland stattfinden. Für deutsche Profi-Clubs sollen Frauen-Teams vorerst aber nicht zur Pflicht werden.

Von Ines Bellinger und Matthias Dröge

Eigentlich waren die englischen Fußballerinnen nach dem 1:0-Auftaktsieg gegen Österreich schon in den Katakomben des Old Trafford in Manchester verschwunden, da kam Rachel Daly noch einmal heraus und reichte einem kleinen Mädchen etwas über die Brüstung. Es war das ersehnte Trikot mit der Nummer 3 von seiner Lieblingsspielerin, die nicht so häufig in englischen Stadien zu sehen ist, weil sie für Houston Dash in den USA kickt - die Kleine auf der Tribüne rastete komplett aus.

Schon zuvor war keine Spielerin der "Lionesses" am Fan-Spalier vorbeigekommen, ohne ein Autogramm zu geben oder sich für ein Selfie ablichten zu lassen. Fast 69.000 Zuschauer hatten die Partie in Manchester live verfolgt, so viele wie nie zuvor ein EM-Spiel bei den Frauen. Auch das 1:1 zwischen Titelverteidiger Niederlande und Schweden an der Bramall Lane in Sheffield verzeichnete mit 21.342 Fans einen Bestwert für ein EM-Gruppenspiel. Das Mutterland des Fußballs liefert, was es versprochen hat: eine Euro der Rekorde.

FA nimmt Geld in die Hand und Proficlubs in die Pflicht

Das kommt nicht von ungefähr, denn der englische Fußballverband (FA) hat viel Geld in die Hand genommen, um die Sichtbarkeit für die Fußballerinnen über regelmäßige Live-Übertragungen zu erhöhen. Und die FA hat Regularien geschaffen - wie die Verpflichtung für Premier-League-Clubs, auch ein Frauenteam an den Start zu bringen. Von solchen wegweisenden Maßnahmen ist der Deutsche Fußball-Bund (DFB) noch weit entfernt. Aber welches Potenzial im Produkt Frauenfußball steckt, wenn Länderspiele nicht an Nachmittagen mitten in der Woche in der Fußball-Provinz angepfiffen werden, zeigte das erste EM-Spiel der deutschen Nationalmannschaft.

Voss-Tecklenburg: Attraktiven Sendeplatz wünschen wir uns häufiger

Den begeisternden Auftritt beim 4:0 gegen Dänemark zur besten Sendezeit sahen in der Spitze fast sechs Millionen TV-Zuschauer. Das entsprach einem Marktanteil von 25,9 Prozent. Die Live-Übertragung war damit die erfolgreichste Fernsehsendung des Tages. "Es ist richtig gut, dass wir unsere EM-Spiele in der Primetime absolvieren und durch die Übertragung von ARD und ZDF eine maximale Sichtbarkeit erreichen", sagte Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg - nicht ohne hinterherzuschieben: "Diesen attraktiven Sendeplatz wünschen wir uns natürlich häufiger."

Sportchef Chatzialexiou voll des Lobes

Der EM-Auftakt lieferte beste Argumente dafür. "Es war die beste Mannschaftsleistung, die ich in meiner Verantwortung als Sportlicher Leiter gesehen habe", sagte Joti Chatzialexiou nach dem Spiel. Dass der Sportchef wie auch DFB-Direktor Oliver Bierhoff für Männer- und Frauen-Nationalmannschaften gleichermaßen zuständig sind, dass die EM-Prämie für die Frauen deutlich angehoben wurde, dass sie vor dem Turnier wie das Flick-Team im "Homeground" des DFB-Ausrüsters in Herzogenaurach trainieren "durften" - das sind sicherlich Schritte in die richtige Richtung. Aber beim DFB mahlen die Mühlen nach wie vor langsam.

Fitschen: Wieder volle Stadien bekommen

Immerhin soll sich bis 2027, wenn Deutschland gemeinsam mit Belgien und den Niederlanden die Weltmeisterschaft ausrichten will, die mediale Reichweite für die Frauen laut DFB-Vizepräsidentin Sabine Mammitzsch idealerweise verdoppelt haben. So steht es im Strategiepapier "Frauen im Fußball FF27", wobei FF für "fast forward" stehen soll: schnell vorspulen. "Wir wollen zwei, drei Spiele pro Jahr wirklich herausheben, die auch richtig bewerben mit Ticket-Sondermaßnahmen. Dass wir wirklich wieder ein volles Stadion bekommen, wie wir das auch schon mal in der Allianz-Arena beispielsweise hinbekommen haben, mit über 40.000 Zuschauern", sagte Ex-Nationalspielerin Doris Fitschen, die das Projekt verantwortet, dem ARD-Hörfunk.

Mehr Präsenz = mehr Einnahmen

In der Bundesliga liegt der Zuschauerschnitt immer noch bei unter 1.000. Laut Fitschen soll künftig auch montags gespielt werden, um mehr Spieltage vermarkten zu können und Lücken zu nutzen, die die Männer lassen: "Da werden jetzt die Medienrechte beispielsweise neu ausgeschrieben, sodass wir hoffen, dass wir einfach eine größere Präsenz haben, auch im Free-TV beispielsweise", so Fitschen. "Und mehr Präsenz bedeutet dann auch mehr Sponsoring-Einnahmen. Und wenn wir mehr Einnahmen erzielen, dann kommen auch die Top-Spielerinnen zu uns."

Hälfte der Mädchen-Teams verloren - Mammitzsch: "Wie ein Gongschlag"

Neben mehr Sichtbarkeit stehen als Ziele im Strategiepapier: mehr internationale Erfolge, eine Frauenquote von 30 Prozent in DFB-Gremien und hauptamtlichen Führungsebenen sowie mehr aktive Spielerinnen. Der DFB hat es total verschlafen, aus den großen Erfolgen der Frauen - zweimal Weltmeister, acht EM-Titel, ein Olympiasieg - einen Nutzen zu ziehen.

In der Zeit nach der Heim-WM 2011 gab es statt eines Aufschwungs sogar einen Einbruch: Seit 2010 hat der DFB die Hälfte seiner Mädchen-Mannschaften verloren. "Das ist natürlich erschreckend, wenn man das auf zehn Jahre sieht, dass wir uns halbiert haben. Das ist ja wie ein Gongschlag", sagte Mammitzsch, die beim ersten EM-Auftritt der deutschen Frauen in Brentford im Stadion war, der Sportschau.

Das ist natürlich erschreckend, wenn man das auf zehn Jahre sieht, dass wir uns halbiert haben. Das ist ja wie ein Gongschlag.
DFB-Vizepräsidentin Sabine Mammitzsch

Die DFB-Vizepräsidentin und ihre Mitstreiterinnen wollen vor allem bei den Jüngsten ansetzen. "Wenn wir es schaffen, die kleinen Mädchen zwischen fünf und neun zu gewinnen, dann bleiben die dem Fußball länger erhalten." Dafür müsse der DFB mit Aktionen wie dem "Tag des Mädchenfußballs" auch in Kindergärten und Grundschulen gehen und auch in die Trainerausbildung für diese Altersgruppen investieren.

Mehr "Schlagkraft in der Primetime" helfe, die Frauen stärker in den Fokus zu rücken und es brauche Vorbilder, die für Mädchen und junge Frauen auch als solche präsentiert werden. "Die Serie 'Born for this' hilft, dass wir eine Identifikation haben mit den Spielerinnen", sagte Mammitzsch. "Die Jungen sehen Manuel Neuer oder haben andere Vorbilder. Das haben die Mädchen nicht, weil sie die Spielerinnen nicht kennen."

Gwinn: Im Camp Nou hängen Bilder von Männern und Frauen

Besonders bitter für die besten deutschen Spielerinnen: Sie sehen, dass das Problem woanders an der Wurzel gepackt wird. In der Fußballakademie des FC Arsenal etwa werden Talente gleichermaßen von Beginn an gefördert. Und der FC Barcelona rückt sein Frauenteam ins Rampenlicht und vermarktet es gemeinsam mit den Männern. "In Barcelona hängen zum Beispiel im Camp Nou Bilder von Männern und Frauen, da wird auch im Stadion der ganze Verein gelebt", sagt Bayern-Abwehrspielerin Giulia Gwinn.

Generalsekretärin Ullrich: Keine Verpflichtung zu Frauen-Teams

In Deutschland wird man wohl noch lange darauf warten müssen, dass in der Bundesliga die Männer-Clubs im Zuge des Lizenzierungsverfahrens zu einer Frauen-Abteilung verpflichtet werden. "Tatsächlich haben wir die Chancen und Risiken diskutiert. Allerdings: Wir sehen die Gefahr, dass die Frauen-Abteilungen in manchen Fällen nur ein Feigenblatt wären. Das würde der Sache viel mehr schaden als nützen", sagte DFB-Generalsekretärin Heike Ullrich der "Bild am Sonntag".

Negativbeispiel Hamburger SV

Als Negativbeispiel nannte Ullrich den Hamburger SV: "Die haben ihr Frauenteam 2011 aus angeblich finanziellen Gründen aus dem Profifußball abgemeldet. Und kurze Zeit später haben sie Rafael van der Vaart für 13 Millionen Euro gekauft." Allerdings war ein Frauen-Team ja eben keine Lizenzauflage, nur deshalb konnte der HSV diesen Schritt schmerzfrei über die Bühne bringen. Gut sei, dass der HSV den Frauenfußball wieder aus eigener Motivation Schritt für Schritt aufbaue. Auch Mammitzsch hofft, dass die Proficlubs von sich aus handeln, weil sie merken, dass es ein Zugewinn für sie ist - wenn vorerst nicht finanziell, so aber in jedem Fall für das Image.

Neuendorf: "Frauenfußball ganz oben auf der Agenda"

Es wird sich zeigen, ob ein Teil der EM-Begeisterung von der Insel auch nach Deutschland schwappt. In jedem Fall wird genauer als noch vor Jahren öffentlich beobachtet werden, ob der DFB nachhaltig im Sinne des Frauenfußballs handelt - und ob er Versprechen einlöst, wie das seines Präsidenten: "Frauenfußball steht bei mir ganz oben auf der Agenda", sagte Bernd Neuendorf bei der Vorstellung des Strategiepapiers. "Das muss er auch."

Dieses Thema im Programm: Das Erste | Sportschau | 09.07.2022 | 17:45 Uhr