Torjäger trifft (noch) nicht Harry Kane - Englands Unersetzlicher muss sich beweisen

Stand: 22.06.2021 10:22 Uhr

Harry Kane behauptet, besser zu sein als bei der WM vor drei Jahren. Davon ist bisher bei der EM nichts zu sehen. Trainer Gareth Southgate stellt ihm trotzdem eine Einsatzgarantie aus.

Von Hendrik Buchheister (London)

Harry Kane hat gerade noch einmal an Portugal erinnert, an die vergangene EM, an 2016. "Ich denke nicht, dass Portugal ein einziges Vorrundenspiel gewonnen hat", sagte der Kapitän und etatmäßige Torjäger der englischen Nationalmannschaft. Und er dachte richtig. Die Portugiesen hatten vor fünf Jahren in Frankreich dreimal Unentschieden gespielt in der Gruppenphase: 1:1 gegen Island, 0:0 gegen Österreich, 3:3 gegen Ungarn.

Sie waren damals als Gruppendritter weitergekommen und gewannen später das Turnier. Die Lehre daraus für Kane: "Es ist recht selten, dass man alle Vorrundenspiele und K.o.-Spiele gewinnt und einen geraden Weg zum Titel hat. Manchmal gibt es ein paar Hochs und Tiefs." So wie gerade bei England?

Traditionelle Panik der Engländer

Die Mannschaft gehört zu den EM-Favoriten, ist dieser Rolle bisher aber nicht gerecht geworden. Dem 1:0 zum Start gegen Kroatien ließ sie ein ernüchterndes 0:0 gegen Schottland folgen. Innerhalb der 90 Minuten gegen den kleinen Nachbarn im Dauerregen von Wembley hat sich die Stimmung in England dramatisch gedreht.

Die Euphorie und der Optimismus über das junge, vor allem in der Offensive hoch veranlagte Team ist der traditionellen Panik der Engländer gewichen, wieder einmal bei einem großen Turnier zu versagen. "So kommt der Fußball nicht nach Hause", spottete die schottische Ikone Graeme Souness in Anspielung auf die allgegenwärtige englische Fan-Hymne "Three Lions", in der es bekanntlich heißt: "Football’s Coming Home".

Kane noch ohne Torschuss

Harry Kane steht im Zentrum der öffentlichen Hysterie, denn Englands Talisman ist bislang höchstens Nebendarsteller. Er schoss bei der EM noch nicht einmal aufs Tor und wurde in beiden Spielen ausgewechselt - jeweils in der Schlussphase, in der Profis seines Formats doch eigentlich gebraucht werden. Als er gegen Schottland in der 74. Minute das Feld räumte, buhte ihn das Publikum aus.

Die "Times" tat nach der Partie Ungeheuerliches – sie stellte Kane in Frage: "Müssen wir über Harry sprechen?", lautete die Titelzeile. "Er war selten dort, wo England ihn brauchte, geplagt von schwachen Annahmen, nutzlosen Zweikämpfen und verschwendeten Läufen", schrieb die Zeitung und garnierte die Rezension von Kanes Auftritt mit einer Statistik, in der er ganze 19 Ballkontakte verzeichnete. Nur vier davon im gegnerischen Strafraum. 

Neue Rolle für Kane

Die traurigen Zahlen stehen im krassen Gegensatz zu den Versprechungen, die Kane gerade gemacht hat. Er sei besser als bei der WM in Russland vor drei Jahren, als England ins Halbfinale gekommen und Kane bester Schütze des Turniers geworden war. Und wer ihn in der vergangenen Saison bei Tottenham Hotspur beobachtet hatte, konnte dieser selbstbewussten Einschätzung nur zustimmen.

In einer dysfunktionalen Mannschaft war er in der Form seines Lebens, gewann zum dritten Mal den "Golden Boot" für den erfolgreichsten Premier-League-Torjäger. Er war auch bester Vorbereiter. In 49 Spielen in allen Wettbewerben kam Kane auf 50 Torbeteiligungen. Das liegt auch daran, dass der 27-Jährige im Verein einen Partner hat, mit dem er sich blind versteht: den einstigen Bundesliga-Profi Heung-min Son. Und es liegt an seiner neuen Rolle.

Kane hat sein Spiel verändert. Er ist kein klassischer Torjäger mehr, sondern lässt sich häufig zurückfallen und bereitet Abschlüsse vor. Im Verein passt das gut. In der Nationalmannschaft allerdings spielt Kane wie jemand, der nicht weiß, wo er hingehört. Ihm fehlt die gewohnte Schärfe, er wirkt langsam und ausgelaugt.

Erneut in der Startelf

Englands Rekordtorschütze Wayne Rooney riet Kane schon vor EM-Start in seiner "Times"-Kolumne, sich auf seine klassischen Fähigkeiten zu besinnen: "Er muss eigensinniger sein und im Strafraum bleiben. Wenn er sich auf seine Rolle als Nummer neun konzentriert, kann er wieder Torschützenkönig werden."

Im letzten Vorrundenspiel der Engländer am Dienstag (22.06.2021) gegen Tschechien ist Kane wieder von Beginn an dabei, das hat Gareth Southgate bereits mitgeteilt. Der Coach versucht, den Trubel um den einzigen anerkannten Weltklasse-Spieler im Team herunter zu spielen. "Seitdem ich England-Trainer bin musste ich schon in drei, vier Phasen solche Fragen zu Harry beantworten. Es ist ein sich wiederholender Kreislauf", sagt Southgate – doch mit den beiden Auswechselungen dokumentierte auch er, dass ihn die Leistungen seines Kapitäns nicht zufrieden stellten.

Die Engländer stehen schon als Achtelfinal-Teilnehmer fest. Mit einem Sieg gegen Tschechien würden sie sich den Gruppensieg sichern und das Achtelfinale im Wembleystadion spielen, gegen den Zweiten der Deutschland-Gruppe. Nachdem Kane bei der WM in Russland fünf seiner sechs Tore in der Vorrunde geschossen hatte und in der K.o.-Runde immer schwächer wurde, könnten die Fans gut damit leben, wenn es bei der EM anders herum wäre.