Cristiano Giuntoli und Aurelio De Laurentiis

Serie A Der Scheue und der Vulkan: Das Duo hinter Neapels Erfolg

Stand: 28.04.2023 16:56 Uhr

Die SSC Neapel kann schon an diesem Wochenende die Meisterschaft in der Serie A perfekt machen. Das ist auch ein Erfolg von zwei Männern, die diesen Aufstieg möglich gemacht haben.

Von Jörg Seisselberg (Rom)

Als Typen sind sie unterschiedlich, keine Frage. Der interviewscheue Manager und der Präsident, dessen Temperament gerne mit dem Adjektiv "vulcanico" (vulkanisch) beschreiben wird und erahnen lässt, dass er nicht zu den ruhigen Zeitgenossen gehört. Aber es ist ein Duo, das funktioniert, seit acht Jahren mittlerweile. Cristiano Giuntoli und Aurelio De Laurentiis haben Neapel wieder zu einer großen Nummer in Fußball-Italien gemacht, mit vergleichsweise wenig Geld.

Cristiano Giuntoli - Manager ohne Wikipedia-Eintrag

Cristiano Giuntoli ist der Unbekanntere der beiden, aber der eigentliche Macher. In Deutschland hat es Neapels Sportdirektor zwar bislang nicht einmal zu einem Wikipedia-Eintrag gebracht. Auch in Italien zuckten Fußballfans beim Namen Giuntoli bis vor kurzem mit den Schultern.

Ein Grund: Der 51-Jährige sitzt zwar bei allen Spielen mit auf der Bank, stellt sich aber selten vor Fernsehkameras und gibt wenig Zeitungsinterviews. Giuntoli agiert als fleißiger und cleverer Strippenzieher im Hintergrund. Die Bühne überlässt er dem Trainer unter ihm (Luciano Spalletti und dem Präsidenten über ihm (De Laurentiis), die beide den medialen Auftritt deutlich mehr lieben.

Giuntoli ist der Architekt der Mannschaft

Doch der Architekt der angehenden Meistermannschaft ist Giuntoli. Seit 2015 arbeitet der gebürtige Florentiner für die SSC. Sämtliche Spieler, die Neapel in dieser Saison in einen neuen Fußballrausch versetzt haben, sind von ihm geholt worden.

Und fast alle diese Giuntoli-Verpflichtungen waren vor dem Wechsel zu Napoli "No Names" im großen Fußball: Giovanni Di Lorenzo, Mario Rui und Piotr Zielinski kamen aus Empoli, Amir Rrahmani von Hellas Verona, Stanislaw Lobotka von Celta Vigo in Spanien, André-Franck Anguissa hatte schwierige Jahre in Fulham und Villareal hinter sich. Giuntoli brachte sie für kleines Geld nach Neapel, stets begleitet von großer Skepsis der Fans. Heute sind die Giuntoli-Entdeckungen allesamt Stützen des angehenden Titelteams.

Das Meisterstück: Der Kvaratskelia -Transfer

Sein Meisterstück vollbracht hat Giuntoli im vergangenen Sommer. Als er - wie immer mit den Sparvorgaben seines Präsidenten in der Tasche - die Leistungsträger Lorenzo Insigne, Kalidou Koulibaly sowie Dries Mertens verkaufte und anstelle der in Neapel geliebten Stars den Südkoraner Min-Jae Kim von Fenerbahce für die Abwehr und den Georgier Kvicha Kvaratskelia von Dinamo Batumi für den Sturm holte.

Die Fans fühlten sich auf den Arm genommen, empfanden diese Verpflichtungen als Frechheit für einen ambitionierten Klub wie Neapel. Heute sind Kim und Kvaratshkelia Fanlieblinge, zu international begehrten Stars aufgestiegen und Protagonisten des neuen neapolitanischen Fußballmärchens.

Giuntoli arbeitet noch traditionell

Zur Fußball-Romantik, die Neapels Sportdirektor umweht, passt die Tatsache, dass Giuntoli kein Moneyball-Jünger ist. Also keiner der Manager, die erstmal Spielerstatistiken durch Computer laufen lassen, um irgendwo bezahlbare Kicker zu entdecken, die wenige andere auf dem Zettel haben. Giuntoli arbeitet nach eigenen Angaben weitgehend traditionell, was durch Quellen aus dem Neapel-Umfeld bestätigt wird.

Die "Talentfabrik" (Corriere dello Sport) des SSC-Sportdirektors besteht aus einem weltweiten Netz an Scouts und einem kleinen Team mit sechs festen Mitarbeitern in Neapel. Diese machen von morgens bis abends wenig anderes, als - meist im Schnelldurchlauf - Fußballspiele anzuschauen und sich über das Gesehene auszutauschen. Um neue Talente zu entdecken beziehungsweise konkreten Hinweisen von Scouts nachzugehen. Ist ein Spieler in die nähere Auswahl gekommen, folgt in der Regel eine Absprache mit dem Trainer und anschließend die finale Entscheidung im gemeinsamen Gespräch beim Präsidenten.

Kvaratshkelia war eigentlich zu teuer

Die Causa Kvaratshkelia ist typisch für das System Giuntoli. Schon seit drei Jahren hatten sie in Neapel den dribbelstarken Stürmer auf dem Radar. In seiner Zeit in Russland bei Rubin Kasan aber war der jetzt als "Kvaradona" Gefeierte bereits zu teuer nach den Regeln, die sich die SSC auferlegt hat. Erst durch Covid und Kvaratshkelias Wechsel zurück in die Heimat zu Batumi wurde er für Neapel erschwinglich. Auch Giuntolis mittlerweile breites Netzwerk im italienischen und internationalen Fußball machte sich in dem Fall bezahlt.

Neapels Khvicha Kvaratskhelia im Kampf um den Ball

Cristian Zaccardo, ehemaliger Wolfsburger und Weltmeister von 2006, dem Georgien als Spielervermittler zur zweiten Heimat geworden ist, hatte von Giuntolis grundsätzlichem Interesse an Kvaratshkelia gehört. Als sich in Batumi die finanziellen Ansprüche änderten, kam von Zaccardo das Signal an Giuntoli, dass der Deal nun doch eingefädelt werden kann.

75 Millionen Euro Ablöse - All In für Osimhen

Nur einmal in seiner Managerkarriere ist Giuntoli bislang "all-in" gegangen. Als er vor drei Jahren Victor Osimhen von Lille OSC nach Neapel holte - für respektabele 75 Millionen Euro. Eine Summe, die nicht nur angesichts der sonstigen Schmalhans-Transfers Neapels erstaunte, sondern auch, weil Osimhen gerade einmal eine gute Saison in Frankreich hinter sich hatte.

Das Risiko schien hoch, doch Giuntoli und sein Team waren überzeugt. Sie konnten auch ihren knauserigen Präsidenten überzeugen - und haben Recht behalten. Osimhens Torjägerqualitäten sind maßgeblich für Neapels Erfolge in dieser Saison. Und statt der gezahlten 75 Millionen ruft Neapel bei interessierten Klubs (zu denen unter anderem Bayern München und Manchester United gehören sollen) jetzt das Doppelte der damaligen Ablöse auf.

Giuntoli: "Man muss auch manchmal lügen"

Erfolgreicher Fußballmanager geworden ist Giuntoli sozusagen auf dem zweiten Bildungsweg. Mittlerweile lehrt er an der Sportschule des italienischen Fußballverbands in Coverciano die Grundlagen des Sportdirektoren-Geschäfts, über das er unverblümt sagt: "Als Sportdirektor muss man in der Öffentlichkeit manchmal auch lügen". Seine Anerkennung hat sich Giuntoli im strukturell konservativen italienischen Fußball mühsam erarbeiten müssen.

Als Aktiver war er als Verteidiger begrenzt erfolgreich durch die dritten und vierten Ligen gegrätscht. Als einzigen Erfolg erreichte der Fußballer Giuntoli 1999 mit Imperia den Gewinn der nationalen Amateurmeisterschaft, im Original, wenig glamourös: "Campionato Nazionale Dilettanti". 

Giuntoli überzeugte schon bei Carpi

Studiert hat der vielseitig Talentierte Architektur und hätte nach exzellenten Zwischenprüfungen fast begonnen, Häuser und Brücken zu konstruieren. Dann aber widmete sich Giuntoli doch dem Aufbauen von Fußballmannschaften und bekam 2009 eine Chance beim norditalienischen Provinzverein Carpi.

Bereits dort schrieb der Mann mit dem besonderen Händchen für Talente ein italienisches Fußballmärchen. Giuntoli führte Carpi, ebenfalls mit Mini-Budgets, innerhalb von fünf Jahren aus dem Fußball-Niemandsland der vierten Liga in die Serie A, erstmals in der Vereinsgeschichte.

De Laurentiis - seit 2004 an der Spitze von Neapel

Diese Erfolgsstory weckte in Neapel die Aufmerksamkeit Aurelio De Laurentiis‘. Der Filmunternehmer liebt Show und Provokation, hat aber auch ein Händchen für Personal. Der heute 73-Jährige, Neffe des in der Nähe von Neapel geborenen Oscar-Gewinners Dino De Laurentiis, hatte 2004 den traditionsreichen Fußballklub übernommen, nachdem die SSC Neapel Pleite gegangen und in die dritte Liga strafversetzt worden war.

Zunächst dachen viele an einen PR-Gag des geltungsbedürftigen Unternehmers. De Laurentiis aber meinte es ernst und führte Napoli innerhalb weniger Jahre zurück in Italiens Topliga und dort wieder in obere Tabellenregionen.

Napoli hält sich an das Financial Fairplay

Von den Fans schlug und schlägt De Laurentiis dennoch Skepsis entgegen. Sie hatten zu Beginn einen italienschen Vereinspatron alter Schule erhofft, der mit großer Geste Millionen ausgibt, um Träume von Titel und Erfolgen zu befeuern. De Laurentiis aber machte das Gegenteil. Seine bei Amtsantritt festgelegte Linie: Niemals wieder solle bei der SSC Neapel mehr Geld ausgegeben werden als eingenommen wurde. 

Die Regeln des Financial Fairplay würden eingehalten. Nachdem Napoli 2014 mit der Coppa Italia und anschließend dem Supercup erstmals Titel unter De Laurentiis gewinnen konnte, wollte der Präsident seine Strategie "mache aus wenig viel" auf die nächste Stufe heben - mit Giuntoli. Um nach dem Wunder von Carpi auch eines in Neapel möglich zu machen.

Neapels Ausgaben deutlich geringer als bei der Konkurrenz

Acht Jahre danach hat es Neapel mit einem für internationale Spitzenmannschaften fast lächerlich geringen Budget geschafft, die Serie A zu dominieren. Gerade einmal 71 Millionen kostet die Mannschaft, die in dieser Saison beweist: Auch wenig Geld kann Tore schießen. Die abgehängte Konkurrenz in Italien hat deutlich teurere Mannschaften.

Juventus Turin gibt 162 Millionen für Spielergehälter aus, Inter Mailand 133 Millionen. Im nationalen Gehaltsranking liegt die SSC nur auf Platz fünf. In Deutschland zahlt Bayern München mit 267 Millionen jährlich für seinen Kader fast viermal soviel wie Neapel. Und Europas Krösus Paris Saint-Germain gibt 408 Millionen für seine Spieler aus, fast sechsmal so viel wie die SSC.

De Laurentiis mehrfach "Football Leader des Jahres"

Sparfuchs De Laurentiis ist in Italien mehrfach mit dem Award "Football Leader des Jahres" ausgezeichnet worden (vergeben von der nationalen Trainervereinigung), als Anerkennung für sein nachhaltiges Wirtschaften im Fußball und das Einhalten des finanziellen Fairplays.

Das ist die eine Seite des De Laurentiis. Die andere Seite ist die eines Präsidenten, der keinen Streit mit seinen Kollegen anderer Vereine auslässt und manchmal kurz davor steht, bei Kritik handgreiflich zu werden. 25.000 Euro musste De Laurentiis zahlen, um ein Verfahren vor dem italienschen Sportgericht beizulegen.

Zuvor hatte Neapels Präsident am Rand von Transferverhandlungen einen Journalisten als "Flegel" bezeichnet und ihm unter Zeugen Prügel angedroht. Für Kopfschütteln sorgte De Laurentiis auch in der Covid-Pandemie, als er mit Corona infiziert an einer Verbandstagung teilnahm, seine Erkrankung aber erst am Tag danach bekannt gab.

Bis heute Probleme zwischen Fans und de Laurentiis

Mit den organisierten Fans der SSC Neapel liegt De Laurentiis bis heute über Kreuz. Trotz der unter seiner Präsidentschaft erreichten Erfolge sind Sprechchöre und Transparente gegen Laurentiis keine Seltenheit. Auch, weil der Präsident aus Sicht der Ultras keine Provokation auslässt. Nach den Ausschreitungen einheimischer und Frankfurter Hooligans vor dem Champions League Spiel in Neapel, hat De Laurentiis die Regierung dazu aufgerufen, gegen Fußballfans Härte zu zeigen.

In Italien, fand der SSC-Präsident, sollte ähnlich hart durchgegriffen werden, wie es Margaret Thatcher in der 1980er Jahren in Großbritannien gemacht hat. Auch ansonsten lässt De Laurentiis keine Gelegenheit aus, um deutlich zu machen, er könne auf die organisierten Fans im Fußball gut verzichten.

SSC Neapel - de Laurentiis' größter Publikumserfolg

De Laurentiis selbst betont, er sei Unterhaltungsunternehmer. Ein guter Unternehmer, findet er, mache auch im Sport Gewinne und nicht Verluste. Im Übrigen, meint Neapels Präsident, gäbe es im Filmgeschäft wie im Fußball die Verpflichtung, "das Publikum zu unterhalten".

Zum Glück für Fußballfreunde macht De Laurentiis dies im Sport - siehe Neapels lustvollen Angriffsfußball - deutlich niveauvoller als im Kino. Dort hat De Laurentiis einen Großteil seines Vermögens mit der Produktion sogenannter "Cinepanettoni" gemacht, den kitschig-flachen Weihnachtskomödien, die in Italien Jahr für Jahr Millionen Euro einspielen.

Die SSC Neapel dürfte nun De Laurentiis’ größer Publikumserfolg werden. In der Stadt werden zur Meisterschaftsfeier bis zu drei Millionen Menschen erwartet. Auch in anderen Städten in Italien wollen Neapel-Fans auf die Straße gehen.