Das Team des SSC Neapel um Khvicha Kvaratskhelia jubelt.

Euphorie um SSC Neapel Serie A - die Faszination des Unaussprechlichen

Stand: 03.11.2022 11:46 Uhr

Die SSC Neapel ist die bislang überragende Mannschaft in der Serie A. Für Aufsehen sorgt vor allem ein Spieler, den bis zum Sommer (nicht nur) in Italien kaum jemand kannte und dessen Namen die Serie-A-Reporter vor Herausforderungen stellt. Am Samstag reist Neapel zum Topduell beim Tabellenzweiten Atalanta Bergamo.

Von Jörg Seisselberg, ARD-Studio Rom

So süß können Niederlagen schmecken. Lange nach Abpfiff noch feierten die Anhänger der SSC Neapel ihre Mannschaft im Gästeblock von Anfield. Zwar hatte das Team 0:2 verloren, sicherte aber trotzdem mit Glanz und Gloria Platz eins vor dem FC Liverpool, Ajax Amsterdam und den Glasgow Rangers. Auch zum Abschluss der Champions-League-Gruppenphase, in einem Spiel mit am Ende unbedeutenden Ausgang, hat Neapel etwas von dem gezeigt, was die Mannschaft auszeichnet: Leichtigkeit, Spaß am Spiel, Lust auf Offensivfußball. Qualitäten, die dem Team von Luciano Spalletti in der Serie A zum souveränen Tabellenführer mit fünf Punkten Vorsprung gemacht haben. Im Spitzenspiel gegen den Zweiten Atalanta Bergamo soll das ausgebaut werden.

Die Dominanz und die spielerische Klasse, die Neapel bislang in der italienischen Liga zeigt, ist bemerkenswert. Jürgen Klopp adelte die Neapolitaner vor dem Auftritt in Liverpool sogar zur augenblicklich stärksten Mannschaft in Europa ("Vielleicht das Team mit der derzeit besten Form"). Pre-Match-Psychologie, sicherlich. Aber nah an der Wahrheit, findet, wer die SSC Neapel in den vergangenen Wochen regelmäßig hat spielen sehen. Mit berauschenden Vorstellungen haben die Partenopei in der Champions League Ajax Amsterdam 6:1, Liverpool 4:1 und die Glasgow Rangers 3:0 geschlagen, in der Serie A schießen sie durchschnittliche jede zweite Begegung drei Tore und mehr.

Reporterschreck und Torjäger

Gefeiert wird vor allem ein Mann, dessen Name für Italiens Reporter am Anfang eine große Herausforderungen war: Khvicha Kvaratskhelia. Der 21 Jahre alte Georgier wirbelt auf der linken Angriffseite derart beeindruckend, dass er auf Anhieb zum Spieler des Monats in der Serie A gekürt wurde. Auch danach hörte Kvaratskhelia nicht auf zu imponieren. Mittlerweile kommt er in Champions League, Serie A und italienischem Pokal auf acht Tore und acht Assists - der "Corriere della Sera" hat errechnet, dass Cristiano Ronaldo nach seinem Einstieg in den italienischen Fußball doppelt so lange für diese Bilanz brauchte, Zlatan Ibrahimovic sogar dreimal so lange.

Neapels Khvicha Kvaratskhelia

Neapels Khvicha Kvaratskhelia

Viel Feingefühl am Ball, rasante Richtungswechel im Dribbling, eine Schnelligkeit auf den ersten Metern, mit der er in Liverpool sogar Trent Alexander-Arnold (teamintern unter den ersten Drei in Sachen Topspeed) locker abhängte, sowie ein für sein Alter ungewöhnliches Spielverständnis. Dazu kommt eine Entschlossenheit im Abschluss, wie sie bei Technikern seiner Güte eher selten ist. Kurzum, wer Khvicha Kvaratskhelia im Trikot der SSC Neapel spielen sieht, fragt sich: Wie konnte ein solches Talent den Scouts der europäischen Topteams entgehen?

Unentdeckt in der russischen Liga

Kvaratskhelia war bislang in der russischen Liga aktiv, bei Lokomotive Moskau und Rubin Kazan. Nach Russlands Angriff auf die Ukraine spielte der 19-fache georgische Nationalspieler zunächst in seiner Heimat bei Dinamo Batumi. Der Spaßfußballer mit dem Straßenjungengesicht wird in Italien bereits mit einem der ganz großen Außenstürmer der Fußballgeschichte verglichen. Der ehemalige Nationalspieler und jetzige TV-Experte Fabrizio Ravanelli meint: "Mit seinen Bewegungen, seinen Richtungswechseln, seinen Dribblings wirkt er wie George Best". Sein Trainer Spalletti bemüht keinen Vergleich zu anderen Stürmergrößen. Nach dem erneuten Galaauftritt des Georgiers beim 4:0-Erfolg vergangene Woche gegen Sassuolo sagte der SSC-Coach schlicht: "Kvaratskhelia ist perfekt, er kann alles".

Italiens Sportpresse hat, um in den Überschriften Buchstaben zu sparen, Kvaratskhelia den wenig originellen Spitzennamen Kvara verliehen. Die Fernsehreporter aber machen Fortschritte in Sachen Aussprache. Die im Übrigen einfacher ist, als es zunächst aussieht. Die Sprachsteuerung im Kopf muss den Namen nur in zwei Teile aufteilen: Kvarat - skhelia, gesprochen: Kwarat - schelia. Da es über Kvaratskhelia in jedem Spiel viel zu erzählen gibt, geht sein Name in Italien mittlerweile vielen erstaunlich leicht über die Zunge.

Unerwarteter Höhenflug

Dass die SSC Neapel derzeit in Italien das Maß aller Dinge ist, erscheint umso erstaunlicher, als dass im Sommer die Fans das Schlimmste befürchteten. Die Ultras wollten Präsident Aurelio De Laurentiis und dem Rest der Vereinführung an den Kragen. Diese hatten es gewagt, die drei stärksten Spieler der vergangenen Jahren auf einen Schlag zu verkaufen: Kapitän Lorenzo Insigne, Vizekapitän Kalidou Koulibaly und Rekordtorjäger Dries Mertens. Mittelmaß schien vorgezeichnet.

Aber Luciano Spalletti tat das, was er seit fast drei Jahrzehnten als Trainer tut: Er akzeptierte nach außen klaglos den von der Vereinsspitze zur Verfügung gestellten Kader - und machte das beste daraus. Er hob das neue Team qualitativ auf eine höhere Ebene. So frisch, so dominant, so vorwärtsorientiert wie die Neapolitaner spielt derzeit keine andere Mannschaft der Serie A.

Erfolgsgaranten sind neben Kvaratskhelia unter anderem dessen Sturmpartner Victor Osimhen, mit fünf Treffern in den vergangenen drei Erstligaspielen derzeit erfolgreichster Torjäger der Serie A und der Slowene Stanislav Lobotka als Taktgeber und Abräumer im defensiven Mittelfeld.

Das Einzige, was die derzeitige Euphorie der Neapel-Fans trübt, ist Spallettis vermeintlicher "Scudetto-Fluch". Ob bei Inter Mailand, der AS Rom oder jetzt Neapel - trotz meist exzellenter Arbeit reichte es für den Coach nie zur Meisterschaft. Nur in seinen fünf Jahren bei Zenit Sankt Petersburg gelang Spalletti zweimal ein Triumpf in der Liga. Aber halt in Russland, nicht in Italien. Ein Erfolg im Spitzenspiel gegen Bergamo soll helfen, dass sich das bald ändert.