Neuaufbau der "Elftal" Van Gaal und die Niederlande: Passt das noch zusammen?

Stand: 22.07.2021 19:12 Uhr

Italien hat vorgemacht, wie eine Autoritätsperson die Nationalmannschaft wieder aufbauen kann. Dennoch ist "General" van Gaal für die Niederlande eine überraschende Wahl als Bondscoach.

Chance und Risiko liegen im Sport nahe beieinander. Mitunter können überraschende Schachzüge der Clou sein, aber auch fürchterlich schiefgehen. Der unkonventionelle Rückgriff des KNVB auf Louis van Gaal als neuen Bondscoach der Niederlande war so eine Überraschung.

Offen bleibt, ob dies nach dem Rücktritt von Frank de Boer nach dem enttäuschenden EM-Aus im Achtelfinale gegen Tschechien aus Mangel an Alternativen und Verzweiflung oder aus einer klaren Strategie heraus geschah.

Italiens Autoritätsperson Mancini macht es vor

Die letztere Möglichkeit erscheint sicherlich für viele nicht ganz nachvollziehbar, aber immerhin auch nicht gänzlich abwegig. Der 69-Jährige wurde zu seinen aktiven Zeiten im Klubfußball nicht nur wegen seines respektvermittelnden vollen Namens, Aloysius Paulus Maria van Gaal, mit dem Spitznamen "General" bedacht.

Er ist eine Autoritätsperson, wie sie im oft fast kumpelhaft anmutenden Trainer-Spieler-Verhältnis, das sich bei Pressekonferenzen offenbart, wenn die Coaches mitteilen, dass "Mo", "Josh" oder "Manu" mal wieder super trainiert haben, nur noch selten zu finden ist. Van Gaal ließ sich nicht nur zu seiner sehr erfolgreichen Zeit als Trainer des deutschen Rekordmeisters Bayern München siezen, sondern gab auch mal zu Protokoll, dies sogar von seinen eigenen Töchtern zu verlangen.

Womöglich wird der KNVB im Zuge der Entscheidung auch auf Europameister Italien geschielt haben. Denn dort gelang es Respektsperson Roberto Mancini (56), dessen Vita wie bei van Gaal ebenfalls gespickt ist mit erfolgreichen Stationen im europäischen Spitzenfußball, die "Azzurri" wiederaufzubauen und zum Europameister zu machen.

Fallhöhe beim KNVB für van Gaal überschaubar - oder?

Nun versucht es der KNVB eben auch mal mit diesem Mittel der alten (Fußball-)Schule. Van Gaals dritte Amtszeit nach einem zweijährigen Engagement Anfang der 2000er Jahre und einer erneuten Beschäftigung zwischen 2012 und 2014 könnte die wichtigste werden - denn das Potenzial mit vielen internationalen Top-Spielern im Kader ist zweifelsohne da.

Natürlich ließe sich nun sagen, dass nach der EM-Enttäuschung die Fallhöhe niedrig ist, zumal van Gaals dritter Platz bei der WM 2014 in Brasilien immer in Erinnerung bleiben wird. Aber: Er schätzte die "Elftal" vor der EM unverhohlen als fähig ein, das Turnier zu gewinnen. Daran muss er sich nun selbst messen lassen.

Denn der Altersdurchschnitt des niederländischen Kaders beträgt um die 28 Jahre. Auch van Gaal wird mit dem Großteil dieser Spieler arbeiten. Etwaige Ausreden bei einem Misserfolg in Katar bei der Winter-Weltmeisterschaft 2022 - oder schlimmer, auf dem Weg dorthin - kann es für ihn nicht mehr geben.

Van Gaals Fußballidee: auch offensiv, aber anders

Der "General" findet einen Pool von Spielern vor, der prädestiniert ist für das traditionell fast schon heilige niederländische 4-3-3, das mit zwei schnellen Akteuren auf dem linken und rechten Flügel überfallartige Gegenstöße ermöglicht. Ex-Coach de Boer beging das Sakrileg und ließ vornehmlich im 3-5-2 auflaufen. Das gefiel einigen Fans nicht, so dass sie vor dem EM-Achtelfinale ein Flugzeug mit Banner über den Trainingsplatz schickten. Aufschrift: "Frank. Wie immer 4-3-3!"

Van Gaal hat seinerzeit den FC Bayern modernisiert. "Louis van Gaal ist rein fachlich gesehen einer der besten Trainer der Welt. Aus meiner Sicht ist er verantwortlich dafür, dass der FC Bayern seinen Fußball grundlegend verändert hat", lobte Ex-Bayern-Präsident Uli Hoeneß, als van Gaal 2019 seine Trainerkarriere eigentlich an den Nagel gehängt hatte: "Ballbesitz, Positionsspiel - das hat er maßgeblich initiiert."

Spielideen, die zwar noch nicht altmodisch daherkommen, aber mittlerweile auch nicht mehr vom Geist der Innovation umgeben sind. Pressing mit hoher Laufintensität? Van Gaal ließ lieber die Gegner laufen, sein Lieblingssystem ist das 4-2-3-1, teils auch das 4-4-2. Ein waschechtes 4-3-3 war unter ihm selten zu sehen. Gegen Ende seiner Zeit bei Manchester United war sein Fußball nur noch wenig spektakulär, auch wenn er sich immerhin mit dem Gewinn des Ligapokals (2016) verabschiedete.

"De Telegraaf": Verpflichtung van Gaals risikobehaftet

Als "ein Risiko" bezeichnete die niederländische Zeitung "De Telegraaf" die Rückkehr des Stoikers. Vielleicht auch deshalb stellte ihm KNVB-Direktor Nico-Jan Hoogma den Ex-Bondscoach Danny Blind (59) und Henk Fraser (55) zur Seite. Letzterer, aktuell auch noch unter Vertrag bei Sparta Rotterdam, soll laut niederländischen Medien als Nachfolger und Mann der Zukunft aufgebaut werden.

Akut wird es für van Gaal, wenn am 1. September die WM-Qualifikation weitergeht und der Gegner Norwegen heißt. Ein Sieg muss her, denn de Boer vergeigte das erste Spiel gegen den wohl größten Gruppengegner Türkei - weitere Ausrutscher sind verboten.