Die deutschen Spielerinnen jubeln über das Ausgleichstor

Bilanz nach der großen Begeisterung Was bleibt von der EM? Was kann Deutschland mitnehmen?

Stand: 02.08.2022 11:05 Uhr

Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg hofft, dass die Nationalmannschaft den EM-Schwung mit nach Deutschland bringt: "Wir dürfen nicht weitermachen wie bisher." Die Namen der Nationalspielerinnen sollen präsent bleiben. Sogar der Kanzler hat seine Unterstützung zugesagt.

Von Florian Neuhauss (London)

Die EM war ein Turnier der Superlative: In Sachen Zuschauerzahlen im Stadion und vor den Bildschirmen, aber auch bei den erzielten Toren und in Sachen Fußball auf dem Rasen hat die Euro 2022 neue Maßstäbe gesetzt. "Das kann dem Fußball keiner mehr nehmen. Die EM hat einen Riesenschritt gemacht", sagte Sportschau-Expertin Nia Künzer und lobte: "Die Spiele hatten ein hohes, attraktives Niveau."

Nach der EM geht es allerdings wieder in den Alltag - und der ist mitunter trist. "Wir dürfen nach dem Finale nicht zurückgehen und alle machen so weiter wie vorher. Wir müssen die Chance jetzt alle gemeinsam nutzen", hatte Voss-Tecklenburg schon vor dem Endspiel betont. Es gehe um die nächsten Schritte im Frauenfußball: "Wenn nicht jetzt, wann dann?"

Dass das kein Deutschland-spezifisches Thema ist, zeigen Worte von Fran Kirby: "Dass so viele Leute zu unseren Spielen kommen, zeigt ja das Interesse. Hoffentlich geht es voran und ist nicht nur ein einmaliges spektakuläres Ereignis", sagte die englische Spielmacherin. Denn auch wenn der englische Frauenfußball bei der Entwicklung eine Vorreiterrolle eingenommen und in der Vergangenheit schon das eine oder andere Ausrufezeichen gesetzt hat - an "normalen" Tagen steht die FA Women's Super League auch nicht im Fokus der Öffentlichkeit.

Frauenfußball hat in Deutschland neue Gesichter

Bundestrainerin Voss-Tecklenburg hofft darauf, dass ihre Mannschaft den Stein hin zu einer wirklichen Verbesserung für den Fußball der Frauen in Deutschland ins Rollen gebracht hat. Und es ist wohl so, dass die DFB-Spielerinnen trotz des verpassten EM-Titels kaum mehr hätten tun können. 2019 hatten sie noch in einem Werbespot vor der WM gesagt, sie spielten für eine Nation, die ihre Namen nicht kennt. Das ist nun anders:

Allen voran Kapitänin Alexandra Popp, die mit ihrer Urgewalt vor dem Tor viele Fans begeistert hat. Auch Svenja Huth, die auf dem Platz vorangeht und dadurch, dass sie ihre Liebe zu ihrer Freundin und mittlerweile Frau öffentlich gemacht hat, nicht nur für viele Frauen und Mädchen zum Vorbild geworden ist.

Diese Mannschaft kann man nur lieben. Und ich hoffe, dass die Spielerinnen viele Mädchen inspiriert haben, wieder Fußball zu spielen.
Sportschau-Expertin Nia Künzer

Und dann hat der gemeine deutsche Fußball-Fan noch einige Frauen kennengelernt, die er so schnell wirklich nicht wieder vergessen dürfte: Angefangen bei Merle Frohms, die eindrucksvoll gezeigt hat, dass es außer Almuth Schult noch eine weitere Torhüterin beim DFB von ganz großem Format gibt. Über Giulia Gwinn, die sich nach ihrem Kreuzbandriss nicht nur eindrucksvoll zurückgemeldet, sondern in ihrer Entwicklung noch einen großen Schritt nach vorn gemacht hat. Bis hin zu den jungen Spielerinnen wie Klara Bühl, die das Pech einer Corona-Infektion vor dem Halbfinale hatte, und auch Jule Brand.

Oberdorf geht in jungem Alter voran

Besonders im Fokus: Lena Oberdorf. Die Wolfsburgerin hat auch auf der ganz großen europäischen Bühne gezeigt, was für ein herausragendes Talent sie ist. Die UEFA zeichnete die 20-Jährige als beste junge Spielerin des Turniers aus. Ihr Bruder Tim, immerhin Profi bei Zweitligist Fortuna Düsseldorf, wird mittlerweile als "Bruder von Lena Oberdorf" vorgestellt - vor Jahren wäre das noch unvorstellbar gewesen. Die Mittelfeldspielerin hat mit ihrer Kompromisslosigkeit auf dem Rasen viele Menschen begeistert und verkörpert bereits absolute internationale Klasse.

Das ist auch Antonio Di Salvo nicht entgangen, wie der Sportliche Leiter der Nationalmannschaften, Joti Chatzialexiou, lachend berichtete. Der U21-Nationaltrainer der Männer habe sich nach Oberdorf erkundigt. Er hätte natürlich auch gern solch ein durchsetzungsstarkes großes Talent unter seinen Fittichen.

MVT: "Vereinsvertreter müssen von Vorurteilen wegkommen"

Voss-Tecklenburg nimmt aber auch die Vereine in die Pflicht. Es brauche Mädchen, die Lust auf Fußball haben, weil sie Vorbilder sehen, weil die sichtbar geworden sind. Sie appelliert, dass einige Vereinsvertreter "von ihren Vorurteilen wegkommen. Die Vereine sollten sich für all das öffnen, was wir hier an Werten vermittelt haben."

Wir werden am Ende nur dann gewinnen, wenn wir all das, was jetzt gerade passiert, ob in Deutschland, in England oder in Europa, wenn wir das auch mit einer Nachhaltigkeit beenden können.
Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg

Künzer hofft auf mehr Zuschauer - im Stadion und am TV

Aber strahlt die Begeisterung für die EM wirklich auf Deutschland ab? "Wir brauchen mehr Zuschauer in den Stadien", sprach Künzer das Kernproblem an. Mit den 87.192 Fans beim EM-Finale kann die Liga natürlich nicht konkurrieren. Dass bei manchen Bundesligaspielen aber nicht einmal 1.000 Zuschauer dabei sind, sollte die absolute Ausnahme sein.

Die Weltmeisterin von 2003 freut sich auf das Auftaktspiel zur neuen Saison von Eintracht Frankfurt gegen Bayern München im großen Stadion. "Das könnte ein guter Übergang sein." Chatzialexiou setzt darauf, "dass wir tatsächlich mit dem Bundesliga-Auftakt eine Euphorie setzen können".

"Bei Spielen in großen Stadien kommen deutlich mehr Zuschauer"

In Köln gibt es Überlegungen, die Frauen, die im Frühjahr zum ersten Mal den Klassenerhalt in der Bundesliga geschafft haben, auch einmal im großen Stadion auflaufen zu lassen. Gedankenspiele, die Ralf Kellermann gefallen: "Man sollte da auch keine Angst haben, dass es keine 10.000 Zuschauer werden. Sondern es geht darum, dass es ein anderes Umfeld ist. Meine Erfahrung ist: Sobald man ins große Stadion geht, kommen deutlich mehr Zuschauer", sagte der Manager des VfL Wolfsburg.

Künzer weiß aber auch um die Bedeutung der Sichtbarkeit im Fernsehen: "Die breite Öffentlichkeit erreicht der Sport nur, wenn er im frei empfangbaren TV zu sehen ist. Eine Bezahlschranke oder ein Extra-Abo sind da ein Hemmnis."

Wie weit reicht der Mut des DFB?

Dass der DFB an dieser Stelle ansetzen will, ist bekannt. Aber was passiert darüber hinaus? Das Präsidium um den neuen Präsidenten Bernd Neuendorf hat jüngst ein Programm zur Stärkung des Frauenfußballs beschlossen - und trotzdem reißt die Kritik am Verband und seinem Umgang mit den Frauen nicht ab. Auch wenn als mögliches Ziel zunächst Equal Play - und nicht Equal Pay - ausgegeben worden ist: Eine finanzielle Grundversorgung für die Bundesliga-Spielerinnen, von denen viele nebenbei immer noch arbeiten müssen, steht bei vielen weit oben auf der Agenda.

"Wir brauchen einen Push in Deutschland. Und dass das kein Selbstläufer wird, sollte mittlerweile allen bekannt sein. Da darf sich jetzt niemand zurücklehnen", betonte Künzer. Jörg Neblung, der seit vier Jahren auch als Berater für Spielerinnen arbeitet, hatte bei sportschau.de vom DFB bereits einen Start-up-Geist gefordert. Ähnlich sieht es Künzer: "Der DFB muss den Mut haben, zu investieren und in Vorleistung zu gehen. Der Frauenfußball hat einen Mehrwert und wirklich große Entwicklungsmöglichkeiten."

Bundeskanzler Scholz sagt MVT Unterstützung zu

Unterstützung wurde Voss-Tecklenburg und ihren Mitstreitenden von höchster Stelle zugesichert. "Olaf Scholz hat mir versprochen, dass wir uns treffen werden", berichtete die Bundestrainerin. Der Kanzler war nach dem verlorenen Finale zusammen mit Innenministerin Nancy Faeser und der Bundestagspräsidentin Bärbel Bas in die Kabine gekommen und hatte zur Mannschaft gesprochen.

MVT weiter: "Wir wollen Projekte anschieben, die dafür sorgen, dass wir nicht stagnieren. Dass wir Mädchen gewinnen für die Vereine, für die Breite, dass wir Talent-Gerechtigkeit bekommen. Wir wollen die Themen angehen. Der feste Wille ist da, Nachhaltigkeit aus diesem Turnier mitzunehmen." Und wenn die EM dafür in Deutschland sorgen sollte, hätte Vize-Europameister Deutschland trotz des verlorenen Finals gegen England sehr viel gewonnen.