Chaotischer Einlass Zweifel an Ticketfälschungen beim Champions-League-Finale

Stand: 01.06.2022 19:16 Uhr

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat sein Bedauern über die verfehlte Organisation des Champions-League-Endspiels ausgedrückt. Sein Innenminister macht weiter Fans und Ticketfälschungen für das Chaos verantwortlich - die Zweifel an dieser Version sind riesig.

"70 Prozent der vorgezeigten Tickets waren Fälschungen", behauptete Innenminister Gérald Darmanin am Montag bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Sportministerin Amélie Oudéa-Castéra. 30.000 bis 40.000 Fans seien ohne Karte oder mit gefälschten Tickets zum Spiel zwischen dem FC Liverpool und Real Madrid nach Saint-Denis nördlich von Paris angereist, sagte Darmanin.

Die Verantwortung schiebt die französische Politik damit weiter den englischen Fans zu. Doch an der Darstellung der beiden Verantwortlichen gibt es erhebliche Zweifel.

AFP und New York Times: Weniger als 3.000 gefälschte Karten

Die französische Nachrichtenagentur AFP berichtete am Dienstagabend (31.05.2022) unter Berufung auf Teilnehmende einer Krisensitzung zwischen UEFA und französischem Fußballverband, dass die Zahl der gescannten Tickets bei den Gesprächen auf 2.800 geschätzt wurde.

Am Mittwoch grenzte die New York Times die Zahl genauer ein und berichtete von 2.589 Eintrittskarten, die die Ordnungskräfte an den Einlasstoren abgelehnt hätten.

Waren die Fälschungen wirklich alle Fälschungen?

Und selbst diese Zahlen sind möglicherweise noch zu hoch. Denn zu den abgewiesenen Personen mit angeblich gefälschten Karten gehörte auch ein Freund von Andy Robertson.

Wie alle Spieler des FC Liverpool hatte auch der Außenverteidiger Karten bekommen und eine davon seinem Freund zur Verfügung gestellt. "Jemand hat ihm gesagt, er habe eine Fälschung", sagte Roberston bei Sky. "Ich kann versichern, dass das keine gefälschten Karten waren, ich hab sie vom FC Liverpool bekommen." Ein Grund für solche Fälle könnten fehlerhafte Scangeräte sein, berichtete die Agentur Associated Press.

Das "industrielle Ausmaß", von dem der Innenminister und die Sportministerin bei den Fälschungen sprachen, lässt sich also kaum belegen. Gefälschte Karten sind kein neues Phänomen bei großen Spielen. Die Zahl von weniger als 3.000 bewegt sich zwar etwas über dem üblichen Rahmen - daran kann die Ausrichtung eines Champions-League-Endspiels aber kaum scheitern.

Französischer Senat befasst sich mit dem Finale

Am Mittwoch musste sich der Innenminister gemeinsam mit der Sportministerin einer Befragung im französischen Senat stellen. Dort räumte er zumindest den "unverhältnismäßigen Einsatz" von Pfefferspray ein und kündigte ein Verfahren gegen zwei Beamte an. "Es ist offensichtlich, dass die Dinge hätten besser organisiert werden können", sagte er. Darmanin blieb dabei, dass die Fälschungen der Auslöser der Probleme waren.

Frankreichs Präsident Macron ist nun Teil der Diskussion um ein Fußballspiel. Macron und seine Regierung seien traurig, dass Fans das Spiel nicht wie geplant hätten sehen können, sagte eine Regierungssprecherin am Mittwoch, nachdem es aus der britischen Politik empörte Äußerungen gegeben hatte. Wie der Präsident zu seinem Innenminister stehe? "Gérald Darmanin ist ein Innenminister, der das volle Vertrauen des Präsidenten hat", sagte die Sprecherin.

"Wie können sich 37.200 Fußballfans in Luft auflösen?"

Eine entscheidende Frage bleibt, wie viele Menschen am und im Stadion waren. Innenminister Darmanin sprach von 120.000, der französische Verband von 110.000. Diese Zahlen werden als zu hoch in Zweifel gezogen. Der amerikanische Sender CBS berichtete unter Berufung auf die Polizei von 95.000 Menschen.

Die Zeitung Libération zeigte den Minister mit einer Pinocchionase und fragte in einem Kommentar zur Differenz zwischen den festgestellten Fälschungen zu den besagten 40.000: "Wie können sich 37.200 Fußballfans über 800 Meter in Luft auflösen? Es ist an der Zeit, dass der Innenminister seine phantasievollen Erklärungen aufgibt."

Fanvertreter kritisiert Innenminister

Ronan Evain, Geschäftsführer des Fan-Bündnisses Football Supporters Europe, kritisierte den Auftritt des Innenministers deutlich. "Darmanin versuchte, klare Fakten mit nicht nachvollziehbaren Tatsachen zu vermischen, um weniger leicht angreifbar zu sein", sagte Evain im Gespräch mit der Sportschau. Und es gebe neue Widersprüche.

Ronan Evain von Football Supporters Europe (FSE)

Ronan Evain von Football Supporters Europe (FSE)

Zum Verbleib der 37.200 Fans sagte der Innenminister, dass diese nach dem Anpfiff mit der Bahn nach Paris gefahren seien. "Die Bahn spricht aber von einem regulären Betrieb zu dieser Zeit. Eine solche Masse an Menschen wäre auf Überwachungskameras aufgefallen." Der Innenminister sagte, es gebe Videobilder, aber die dürfe er "unglücklicherweise nicht zeigen".

Die Kritik von Evain: "Das Ausmaß des Andrangs ticketloser Fans wurde übertrieben, um vom Ausmaß des organisatorischen Versagens abzulenken."

Viele Fragen an Polizei, Politik und UEFA

Die französische Polizei, die Behörden, die UEFA und der französische Fußballverband werden nun Fragen beantworten müssen:

  • Warum trieb die Polizei zahlreiche Liverpool-Fans in eine gefährliche Enge in einer Unterführung nahe des Stadions?
  • Wie begründet die Polizei den auf vielen Videos schier wahllos wirkenden Einsatz von Pfefferspray gegen Fans, der teilweise auch Kinder traf?
  • Warum konnte die Sicherheit vieler Fans beider Mannschaften nicht gewährleistet werden, als vor allem nach dem Spiel mehrere von ihnen ausgeraubt wurden?
  • Warum begründete die UEFA die Verschiebung des Spiels mit dem "verspäteten Eintreffen" von Liverpooler Fans, obwohl viele von ihnen seit Stunden vergeblich auf Einlass warteten?
  • Wie konnte es passieren, dass Fans mit gültigen Karten abgewiesen wurden?
  • Warum war es gleichzeitig möglich, dass mehrere Jugendliche, die keiner Fangruppe zuzuordnen waren, die Zäune überkletterten und ins Stadion eindrangen?
  • Warum wurden tagelang Liverpooler Fans als Gewalttäter stigmatisiert, ohne dass es Belege für ein solches Verhalten gab?

Lokalpolitiker aus Paris: "Die Zeit für eine Bitte um Entschuldigung muss kommen"

Zumindest einer fand ausgleichende Worte. Richard Bouigue ist der stellvertretende Bürgermeister des 12. Arrondissement von Paris, wo die Fanzone für Liverpool-Fans organisiert war. "Ich bedauere bitterlich, dass Liverpools Fans alleinverantwortlich für die fehlgeschlagene Organisation des Spiels gemacht werden", schrieb er bei Twitter. "Wir müssen die nutzlose Polemik überwinden, Fakten ermitteln und mit dem problemlosen Ablauf in der Fanzone vergleichen. (...) Die Zeit für offizielles Abstreiten der Verantwortung ist vorbei, die Zeit für eine Bitte um Entschuldigung muss kommen."

Bouigue sprach von Bedenken bei Anwohnenden und Geschäftsleuten im Vorfeld des Spiels. Diese seien aber alle von der fröhlichen Stimmung der Fans aus Liverpool zerstreut worden.