Hansi Flick gestikuliert
analyse

Ungarn legt Problemzonen offen Für Flicks Mängelliste sind zwei Monate wenig

Stand: 24.09.2022 10:37 Uhr

Hansi Flick bleibt erstmal nur ein Wochenende, um seine Mängelliste bis zum England-Spiel am Montag anzugehen. Auch die Zeit bis zum WM-Start wird knapp: Die Probleme der Nationalmannschaft gegen Teams wie Ungarn sind vielschichtig - eine Analyse.

Am 23. November um 14 Uhr mitteleuropäischer Zeit wird es für Deutschland ernst: Bei der Weltmeisterschaft in Katar steht das erste Gruppenspiel gegen Japan an. Japan ist längst kein Fußballzwerg mehr, die Mannschaft ist extrem laufstark, technisch top, macht defensiv die Räume sehr eng und setzt wie jetzt beim 2:0-Testspielsieg gegen die USA immer wieder Nadelstiche in der Offensive. So ähnlich wie Ungarn.

Bereitschaft und Mut haben gefehlt

Solche Gegner liegen dem DFB-Team traditionell nicht besonders gut, die Männer von Hansi Flick mögen mitspielende und hoch stehende Mannschaften. Aber die WM wird kein Wunschkonzert, neben Japan wartet mit Costa Rica am 1. Dezember um 20 Uhr noch ein Kontrahent, der nicht mit fliegenden Fahnen anrennt und netterweise die Abwehr entblößt. Die Lücken in solchen Spielen müssen sich die Deutschen schon selbst erarbeiten, und an der Bereitschaft dazu hat es beim 0:1 gegen Ungarn nicht nur in der ersten Halbzeit gefehlt.

Es ist durchaus zu erwarten, dass die Herangehensweise gegen England (Montag ab 20.45 im Live-Ticker bei sportschau.de) eine ganz andere sein wird, aber England spielt eben auch nicht wie Ungarn, Japan und Costa Rica. Diese Gegner sind nur zu knacken, wenn man sie auseinanderzieht, das Spiel immer wieder schnell verlagert, die Abwehrkette hinterläuft und dann aber auch die Pässe aus dem zentralen Mittelfeld mit Mut zum Risiko in den Lauf der startenden Stürmer oder Flügelspieler anbringt.

Joshua Kimmich (vorne) und Jonas Hofmann zeigen ihre Enttäuschung

Joshua Kimmich (vorne) und Jonas Hofmann zeigen ihre Enttäuschung

Belastung aus München und Leipzig

Gegen die Ungarn fehlte es teilweise noch nicht mal an den Räumen hinter der Kette, doch Joshua Kimmich und vor allem Ilkay Gündogan drehten viel zu oft wieder ab und nahmen das Tempo aus den Angriffen. Hinzu kamen teils haarsträubende Abspielfehler und Ballverluste, die den Gegner auf- und das eigene Selbstvertrauen immer weiter abbauten.

Deutschland gegen Ungarn - die Zusammenfassung

Sportschau, 23.09.2022 00:00 Uhr

Thomas Müller gab nach der Partie offen zu, dass das derzeit fehlende Selbstverständnis aus einigen Vereinen auch ins Nationalteam transportiert wurde. Neben den Bayern, die trotz der coronabedingten Ausfälle von Manuel Neuer und Leon Goretzka in Kimmich, Müller, Leroy Sané und Serge Gnabry noch vier Startelfspieler stellten, gilt das auch für Leipzig mit David Raum und Timo Werner.

Thomas Müller blickt ratlos drein

Probleme im Verein und im Nationalteam: Thomas Müller sieht ratlos aus

Hansi Flick ist einerseits bekannt für seine Treue zu kriselnden Spielern, das ist auch Teil der großen Erfolgsgeschichte seiner Trainerkarriere. Doch er sagte nach der Ungarn-Partie auch ziemlich unmissverständlich: "Die erste Halbzeit hat uns die Augen geöffnet, daraus müssen wir unsere Schlüsse ziehen. Die Zeit der Experimente ist vorbei." Das könnten für Raum, Werner und Gnabry schlechte Nachrichten sein, aber auch Gündogan spielt für Deutschland zu selten so wie für Manchester City.

Musiala und Havertz die Top-Alternativen

Immerhin: Alternativen hat Flick durchaus. Statt Gündogan ist zu erwarten, dass Goretzka zur WM neben Kimmich in die Zentrale rückt, wenn er seine Erkrankung ohne Langzeitfolgen übersteht. David Raum hat jetzt wieder den vor zwei Jahren bei der EM erfrischend auftrumpfenden Robin Gosens im Nacken, auch wenn der nach seiner langwierigen Oberschenkelverletzung noch nicht wieder in Bestform ist.

In der Offensive drängen die kreativen Jamal Musiala und Kai Havertz ins Team, bezeichnenderweise lief es gegen die Ungarn auch besser, als die beiden ab der 69. Minute auf dem Platz waren. Über Musiala sagte Flick in seiner Ungarn-Analyse später noch: "Jamal hat das gewisse Etwas, wenn eine Mannschaft tief steht und kompakt verteidigt. Er hätte uns sicherlich in der ersten Halbzeit auch gutgetan."

Heilsame Momentaufnahmen

Gutgetan haben der deutschen Nationalmannschaft in der Vergangenheit auch immer wieder mal solche Weckruf-Spiele wie jetzt gegen Ungarn. Bevor das DFB-Team 2014 in Brasilien Weltmeister wurde, gab es im Mai ein 0:0 gegen Polen und im Juni ein 2:2 gegen Kamerun. Vor dem Sommermärchen-Turnier 2006 in Deutschland ging Jürgen Klinsmann am 1. März mit 1:4 gegen Italien derart unter, dass sich DFB-Präsidiumsmitglied Franz Beckenbauer ernsthaft für eine sofortige Notlösung mit Winfried Schäfer und Lothar Matthäus auf der Trainerbank stark machte, um "seine" WM zu retten.

Bei allen Defiziten gegen Ungarn: Solche Gedankenspiele wären diesmal echt übertrieben. Flick muss allerdings sehr schnell seine Lehren ziehen, nach dem Bundesliga-Break am 13. November bleibt ihm vor dem WM-Start nur noch eine Mini-Vorbereitung mit einem einzigen Testspiel gegen den Oman.