Ex-Schiedsrichter Lutz Wagner
interview

Schiedsrichter-Experte Lutz Wagner - So wirkt sich die WM auf die Bundesliga aus

Stand: 16.12.2022 22:28 Uhr

Klartext im Sportschau-Interview: Schiedsrichter-Experte Lutz Wagner bilanziert, was ihm bei der WM in Katar gut und was ihm gar nicht gefallen hat. Und er benennt die Auswirkungen auf die Bundesliga.

Sportschau: Herr Wagner, Sie hatten nach der Vorrunde mit vielen kuriosen Schiedsrichter- und VAR-Entscheidungen gegenüber sportschau.de die Hoffnung geäußert, dass die Leistungen in den K.o.-Spielen besser werden würden - war das so?

Lutz Wagner: "62 Spiele sind gespielt und zuletzt gab es deutlich weniger krasse Fehler, die die Fußballwelt in Aufruhr versetzt haben. Das war in der Vorrunde etwas anders. Wir hatten ja sogar einen Regelverstoß mit dem aberkannten Griezmann-Tor bei Frankreichs Niederlage gegen Tunesien - der zum Glück für alle aber folgenlos blieb. Was mir nicht gefallen hat, dass auch in der K.o.-Runde in einigen Spielen keine passende Linie vor allem bei den persönlichen Strafen erkennbar war. Bei Frankreich gegen Marokko wurde extrem großzügig gepfiffen, da hätte es drei Gelbe Karten mehr geben können oder auch müssen. Dagegen war es bei Niederlande gegen Argentinien mit 17 Gelben Karten komplett überzogen - und dabei auch noch mehrfach inkonsequent."

Argentiniens Leandro Paredes hat beispielsweise erst seinen Gegenspieler voll umgesenst und dann noch den Ball mit Absicht Richtung Bank der Niederländer gedroschen - wie kann ein so erfahrener Mann wie Antonio Mateu Lahoz so etwas ungeahndet lassen?

Wagner: "Ja, das war zwingend ein Platzverweis. Genauso dann aber auch für Virgil van Dijk, der als Unbeteiligter angerannt kommt und Paredes zu Boden checkt. Da zweimal Rot - und Lahoz hätte Ruhe gehabt."

Paredes sieht Gelb

Leandro Paredes sieht Gelb - und guckt auch noch fassungslos. Dabei hätte es Rot sein müssen

Es wirkte bei dieser WM generell oft so, als hätten die Schiedsrichter Angst vor einem Platzverweis. Warum?

Wagner: "Vielleicht wollten sie zu sehr im Sinne des Fußballs handeln. Aber es geht ja auch um die Botschaft, die ich als Schiedsrichter an die Spieler aussende. Wenn ich wie bei besagtem Spiel für alles immer nur Gelb zeige, denkt halt jeder, er kann sich immer mehr erlauben, er wird ja eh nur verwarnt. Es muss dann eben auch in einer Spielleitung mal eine Steigerung der Sanktionen geben."

Wie können solche Vorstellungen von Wilton Sampaio aus Brasilien passieren, der im Viertelfinale zwischen Frankreich und England klarste Fouls im und am Strafraum einfach nicht geahndet hat?

Wagner: "Generell war Sampaio bei seiner Spielleitung eigentlich auf einer guten Linie. Aber der übersehene und erst durch den VAR erkannte zweite Strafstoß für England war eine der wenigen, aber schwer nachvollziehbaren Entscheidungen von Sampaio, zumal er beste Sicht auf die Situation hatte. Hier muss der Anspruch bestehen, dies auch ohne die Hilfe des VAR zu lösen."

Sehr umstritten war eine Szene aus dem Halbfinale zwischen Frankreich und Marokko: Theo Hernández tritt im eigenen Strafraum Sofiane Boufal um, aber es gibt keinen Elfmeter und der Marokkaner sieht sogar noch Gelb. Aus welchem Grund?

Wagner: "Das war eine Szene, die man auf keinen Fall isoliert betrachten darf, man muss den Vorlauf sehen. Wenn man nur den letzten Tritt sieht, ist man bei einem klaren Strafstoß. Aber: Unmittelbar vorher spielt Hernández eindeutig den Ball an Boufal vorbei und hat damit quasi 'das Recht des Ballspielenden' auf seiner Seite. Von daher war die Entscheidung an sich - bis auf die Karte gegen Boufal – nachvollziehbar und korrekt."

Wie viel Schuld geben Sie bei derart eskalierenden Spielen wie Holland gegen Argentinien oder auch Schweiz gegen Serbien den Spielern? Und wie viel Schuld den Schiedsrichtern?

Wagner: "Die Aktionen gehen zunächst einmal von den Spielern aus. Doch muss ich als Schiedsrichter erkennen: Bin ich hier weiterhin nur der Begleiter und Moderator, der den Profis vor jeder Ecke, jedem Freistoß und jedem Strafstoß nochmal die Regeln näherbringen will? Das nutzt sich irgendwann völlig ab. Oder erkenne ich: Hier darf ich den Profi jetzt nicht mehr gewähren lassen, sondern muss dominanter auftreten und entsprechend sanktionieren. Die Spieler loten ja permanent aus, wie weit sie in jedem Spiel gehen können, da müssen die Signale des Unparteiischen klar und rechtzeitig kommen."

Den deutsche Schiedsrichter Daniel Siebert hatten Sie nach seinem ersten Einsatz sehr gelobt. Beim Spiel gegen Ghana fühlten sich die Spieler von Uruguay dann aber krass benachteiligt und wurden sogar handgreiflich. Wie bewerten Sie seine Leitung der Partie?

Wagner: "Siebert hat es insgesamt sehr gut gemacht, die Kritik der Uruguayer war unberechtigt und überzogen. Ihr Frust stammte sicher noch aus dem Portugal-Spiel, wo sie in der Tat Opfer der vielleicht krassesten Fehlentscheidung dieser WM geworden waren: Da hatte Schiedsrichter Faghani richtigerweise keinen Handstrafstoß verhängt, dann aber vom VAR nur bedingt geeignete Sequenzen und vorrangig Zeitlupenbilder geliefert bekommen und am Ende kam mit dem Strafstoß die falsche Entscheidung heraus - ein Fehlverhalten auf allen Ebenen, genau dafür ist der VAR nicht da. Bei Siebert dagegen gab es drei strittige Strafraumszenen, die aber alle vertretbar gelöst wurden."

Warum tut sich Siebert aber nicht den Gefallen und sieht sich die strittige Elfmeterszene mit Edinson Cavani kurz vor Schluss auf dem Videoschirm an? Es sah ein bisschen nach dieser Sturheit aus, die an Felix Brych bei der WM 2018 im Serbien-Spiel erinnerte, was für Brych damals die vorzeitige Heimreise bedeutete. Siebert hätte dann ja trotzdem bei seiner Entscheidung bleiben können, sich aber unheimlich viel Stress erspart.

Uruguays Nationalspieler Diego Godín greift Schiedsrichter Daniel Siebert an

Uruguays Nationalspieler Diego Godín greift nach Schiedsrichter Daniel Siebert

Wagner: "Weder Brych noch Siebert sind stur, sondern beide sehr professionell. Es war so, dass Siebert erkannt hatte, dass Cavani deutlich sein Bein seitlich in den Laufweg des Gegenspielers stellt, um so den Kontakt selbst herbeizuführen. Deshalb hat er zu Recht keinen Strafstoß bekommen. Der VAR sah es genauso und hat ihn in seiner Entscheidung bestärkt - dadurch war es nicht mehr erforderlich, zum Videoschirm zu gehen. Aber ich verstehe auch Ihre Ansicht - für die Außenwirkung wäre es möglicherweise das bessere Vorgehen gewesen, sich die Szene nochmal anzuschauen."

Ihr langjähriger Kollege Urs Meier fordert, dass der VAR nicht in irgendeinem Keller oder Ü-Wagen sitzt, sondern im Stadion, um das ganze Spielfeld zu sehen und einen besseren Überblick zu haben. Was denken Sie darüber?

Wagner: "Der VAR soll sich ja gerade nicht von der Stimmung in einem Stadion leiten lassen, sondern allein auf Grund von möglichst aussagekräftigen Bildern entscheiden. Er hat unter anderem auch eine Kameraansicht, die das ganze Spielfeld im Blick hat - von daher liegt es nicht an den Voraussetzungen."

Fanden Sie auch, dass der VA bei der WM weniger eingegriffen hat als in der Bundesliga?

Wagner: "Gefühlt mag das so sein, aber das hat auch etwas mit der persönlichen Betroffenheit zu tun. Wenn bei Südkorea gegen Ghana ein VA zum Einsatz kommt, erzeugt das bei uns weniger Betroffenheit als bei einem Spiel der deutschen Bundesliga. Aber da warten wir gerne die genauen Auswertungen nach der WM ab."

Gibt es etwas, was bei der WM in Mode kam und Auswirkungen auf die Bundesliga haben wird oder haben sollte?

Wagner: "Es wurde bei der WM oft nicht mehr so hoch gepresst, man hat sich mehr fallen lassen und dem Gegner im Aufbau mehr Raum gegeben. Das ist eine etwas andere Spielweise, die man als Schiedsrichter in seine Positionierung und seine Laufwege einbeziehen muss, um nicht - wie leider immer wieder bei dieser WM - den Spielern oder ihren Pässen im Weg zu stehen. Was mir noch auffiel: Das sogenannte Stempeln, also das Treten auf den Fuß des Gegenspielers, kommt immer mehr in Mode. Das ist aber bei den leichten und dünnen Fußballschuhen heute sehr schmerzhaft und kann schnell zu Verletzungen führen - das sollte konsequent geahndet werden."

Zu den langen Nachspielzeiten haben Sie schon gesagt, dass Sie auf einen Lerneffekt der Spieler setzen, Motto: Zeitschinderei lohnt sich dann nicht mehr. Hat sich da im Lauf des Turniers etwas verbessert?

Wagner: "Ich finde schon, es gab zuletzt nicht mehr diese zehn bis 15 Minuten obendrauf. Für die Bundesliga wünsche ich mir zwar auch mehr Nettospielzeit, aber da muss man genau hinsehen. Zeitspiel ist meist gegen Spielende angesagt: Wenn zum Beispiel in der fünfminütigen Nachspielzeit noch zwei langwierige Wechsel vorgenommen werden und zwei Spieler angeblich verletzt sind, dann muss ich eben nochmal zwei Minuten draufgeben. Dann kann auch gerne nochmal die Tafel an der Seitenlinie hochgehen, um das dann auch den Fans anzuzeigen."

Gibt es jetzt von FIFA oder der UEFA eine Anweisung an die Bundesliga, diese Nachspielzeiten nach der Winterpause auch hier umzusetzen?

Wagner: "Die Vorbildfunktion geht meist von oben aus, also auch vom Vorgehen während dieser WM. Es waren ja Schiedsrichter aus allen Kontinentalverbänden da und es ist auch wichtig, dass später die längeren Nachspielzeiten nicht nur in Deutschland oder England praktiziert werden, sondern wenn dann überall gleich und nachvollziehbar für alle."