Oliver Bierhoff und Bernd Neuendorf vom DFB bei einer Pressekonferenz

FIFA WM 2022 "Fühlt sich stark nach Zensur an" - vernichtende Kritik am Binden-Verbot

Stand: 21.11.2022 15:11 Uhr

Sieben europäische Verbände verzichten nach der Androhung von Sanktionen durch die FIFA auf die "One Love"-Binde für ihre Kapitäne. DFB-Präsident Neuendorf und DFB-Geschäftsführer Bierhoff bezogen Stellung.

"Die FIFA hat heute eine Aussage für Diversität und Menschrechte untersagt. Das sind Werte, zu denen sie sich in ihren eigenen Statuten verpflichtet", sagte Bernd Neuendorf. "Das ist aus unserer Sicht mehr als frustrierend und ein beispielloser Vorgang in der WM-Geschichte."

Neuendorf: "Mit sportlichen Konsequenzen bedroht"

Der Weltverband habe Sanktionen angedroht, so der DFB-Präsident weiter: "Es handelt sich aus meiner Sicht um eine Machtdemonstration der FIFA. Sie hat uns klargemacht, dass wir mit sportlichen Konsequenzen bedroht werden, sollten wir der Aufforderung, die Binde nicht zu tragen, nicht nachkommen. Wir wollen nicht, dass der Konflikt auf dem Rücken der Spieler ausgetragen wird. Wir stehen zu unseren Werten und zu dem, was wir gesagt haben und glauben, dass wir diese Werte im Laufe des Turniers weiter vertreten werden."

Neuendorf will trotz des Streits weiter "im Dialog" mit dem Weltverband bleiben: "Ich habe kein Interesse daran, das Verhältnis zur FIFA nachhaltig zu belasten. Aber wir bleiben klar in der Kritik."

Bierhoff: "Es geht nicht mehr um den Sport"

Auch DFB-Geschäftsführer Oliver Bierhoff äußerte sich zur "One Love"-Binde. "Diese Eskalation führt dazu, dass es nicht mehr um den Sport geht. Es ist eine große Verärgerung da und das fühlt sich schon stark nach Zensur an", sagte der Ex-Profi: "Man kann uns die Binde nehmen, aber die Werte nicht."

"Schwierige Situation" für Manuel Neuer

Das Verbot sei auch für die Spieler frustrierend, so Bierhoff weiter: "Auch für Manuel ist es eine schwierige Situation. Er hat ja gesagt, er werde die Binde tragen. Nun ist er enttäuscht, dass das nicht möglich ist."

Die "One Love"-Kapitänsbinde der europäischen Kapitäne um Neuer hatte am zweiten WM-Tag zum großen Zerwürfnis mit dem Fußball-Weltverband FIFA geführt. "Die FIFA hat sehr deutlich gemacht, dass sie sportliche Sanktionen verhängen wird, wenn unsere Kapitäne die Binden auf dem Spielfeld tragen", hieß es in einer gemeinsamen Erklärung. Neben Deutschland hatten auch England, Wales, Belgien, Dänemark, die Niederlande und die Schweiz geplant, die vielfarbige Binde mit einem Herz zu tragen - und nun einen Rückzieher gemacht. Mögliche Bestrafungen hätten zum Beispiel Gelbe Karten für die Spielführer sein können.

Hitzlsperger: "Wie erbärmlich"

Derweil hat der frühere Nationalspieler Thomas Hitzlsperger deutliche Kritik an FIFA-Präsident Gianni Infantino geübt. "Infantino hat es sogar geschafft, die Mannschaften zu zwingen, die "One Love"-Binde nicht zu tragen. Wie erbärmlich?! Wie wäre es mit Regenbogen-Schnürsenkeln?", schrieb der 40-Jährige bei Twitter.

"Infantino denkt, das Spiel gehört ihm"

"Gianni Infantino denkt, er ist größer als Virgil van Dijk, Manuel Neuer, Harry Kane und andere Topstars des Weltfußballs", legte der offen als homosexuell lebende Hitzlsperger nach: "Er denkt, das Spiel gehört ihm. Er kann sich schwul, arabisch, moslemisch und noch ganz anders fühlen. Es ist so traurig, dass wir an diesem Punkt angekommen sind."

Merk: "Historische Chance verpasst"

Für den früheren WM-Schiedsrichter Markus Merk haben der DFB und die anderen europäischen Verbände eine Riesenchance vergeben. Sie hätten "das autoritäre Selbstverständnis" der FIFA aufweichen können, sagte Merk. Aber sie seien kurzfristig eingeknickt. "Durchaus denkbar, dass die FIFA die Schiedsrichter zu Sanktionen gegen Spieler und Teams angewiesen hätte, aber der gewünschte Glanz des Turniers wäre bei solidarischem Handeln der großen und für eine WM so wichtigen Verbände weiter verblasst. Auch wenn ich für den Sport im Vordergrund bin: Es wurde (wieder) eine historische Chance verpasst." Merk war 1992 bis 2007 FIFA-Unparteiischer und 2002 und 2006 WM-Schiedsrichter.

Human Rights Watch: "Klappe halten und spielen"

Auch bei der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch stieß der Verzicht auf die "One Love"-Binde auf Unverständnis. "Selbst diese symbolische Geste der Solidarität mit LGBT+-Personen wird von der FIFA und den Behörden in Katar nicht erlaubt", hieß es in einem Statement der Organisation: "Sie sagen den Spielern im Wesentlichen, dass sie die Klappe halten und spielen sollen."

Die englische Abkürzung LGBT+ steht für Lesben, Schwule, Bisexuelle und Trans-Menschen. Das Pluszeichen ist ein Platzhalter für weitere Identitäten und Geschlechter.

Fan-Organisation: "Heute fühlen wir uns verraten"

Harsche Kritik an der FIFA gab es auch vonseiten der organisierten Anhänger. "Um Gianni Infantino zu zitieren: Heute werden sich LGBT-Fußballfans und ihre Verbündeten wütend fühlen. Heute fühlen wir uns verraten", schrieb die Fan-Organisation Football Supporters' Association (FSA): "Heute empfinden wir Verachtung für eine Organisation, die ihre wahren Werte unter Beweis gestellt hat, indem sie den Spielern die Gelbe Karte und der Toleranz die Rote Karte gezeigt hat."

Nach Ansicht der FSA sollte "nie wieder" eine WM "ausschließlich auf der Grundlage von Geld und Infrastruktur" vergeben werden: "Keinem Land, das bei LGBT-Rechten, Frauenrechten, Arbeitnehmerrechten oder einem anderen universellen Menschenrecht versagt, sollte die Ehre zuteil werden, eine WM auszurichten."

Künast: "DFB, das ist echt schwach"

Auch am DFB wurde wegen des Rückziehers Kritik geübt. "Noch ein Grund nicht zu schauen! DFB, das ist echt schwach", schrieb Renate Künast (Bündnis 90/Die Grünen) ebenfalls bei Twitter. Ihr Parteikollege Konstantin von Notz äußerte sich im gleichen Medium wie folgt: "Finde ich eine abstruse, falsche und beschämende Entscheidung. Was ist die FIFA nur für ein unterirdischer Laden!"

Die FDP-Politikerin Renata Alt, Vorsitzende des Bundestagsausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe, sagte einer Mitteilung zufolge: "Dass der DFB und andere europäische Verbände sich dem Druck der FIFA unterwerfen und die One-Love-Binde nicht länger tragen werden, ist enttäuschend. Dass die FIFA aber mit Punktabzug für ein derartiges Bekenntnis zu Menschenrechten gedroht hat, ist skandalös. Menschenrechte sind universell gültig und keine politische Botschaft!"

Der Entscheidung der FIFA waren intensive Beratungen der UEFA-Arbeitsgruppe mit dem Weltverband vorausgegangen. Die FIFA begründete das Verbot mit den von allen Teilnehmern anerkannten WM-Regularien. Explizit hob der Verband in einer Mitteilung vom Montag den Artikel 13.8.1 der Ausrüstungsregeln hervor: "Für FIFA Final-Wettbewerbe muss der Kapitän jeder Mannschaft eine von der FIFA gestellte Armbinde tragen." Die FIFA unterstütze Kampagnen wie "One Love", aber dies müsse im Rahmen der allen bekannten Regeln erfolgen.

Machtkampf mit der FIFA

Um die Armbinde gibt es bereits seit langem Diskussionen. Sie zeigt ein buntes Herz und den Slogan "One Love". Die Aktion kommt vom Verband der Niederlande und soll ein Zeichen gegen Homophobie, Antisemitismus, Rassismus und für Menschenrechte und Frauenrechte sein. Sieben Teams hatten ursprünglich angekündigt, die Binde bei der WM tragen zu wollen.