Fußball | Weltmeisterschaft Kanada reist zur WM - Ein "Fußball-Zwerg" will hoch hinaus

Stand: 28.03.2022 11:02 Uhr

Canada can! Kanada ist zwar das zweitgrößte Land der Erde, in Sachen Männer-Fußball aber trotzdem ein "Zwerg". Bei der WM 2022 sind sie dabei - und die Zukunft sieht vielversprechend aus.

Es schneit leicht. Die gefühlte Temperatur im ausverkauften BMO Field von Toronto beträgt minus 13 Grad Celsius. Doch keiner der 29.112 Fans friert. Niemand bereut es, an diesem Sonntagnachmittag (Ortszeit) dabei zu sein. Für den letzten Meter auf ihrem Weg zur Fußball-Weltmeisterschaft nach Katar sind die Fans gerne bereit, ein paar Stunden im Kühlschrank zu verbringen. Singend, grölend, jubelnd.

Ihre Lieblinge auf dem Platz sorgen dafür, dass es gegen Jamaika keine Zitterpartie wird. Dass dieser eine Punkt, den Kanada noch zur ersten WM-Qualifikation seit dem 14. September 1985 braucht, reine Formsache ist. Spätestens mit dem 2:0 von Tajon Buchanan in der 44. Minute ist die Partie entschieden und das Stadion Kanadas Epizentrum der Emotionen.

"Das ist eine echte Fußball-Nation"

"Das ist der Augenblick, auf den das Land gewartet hat. Kanada reist zur WM", brüllt der Kommentator des übertragenden TV-Senders "Sportsnet" mit Spielschluss in sein Mikro. Der Abpfiff ist der Startschuss für einen kollektiven kanadischen Rausch. Auf dem Rasen hüpfen Spieler, Trainer und Betreuer, auf den Rängen schwenken Fans begeistert ihre rot-weißen Fahnen mit dem Ahornblatt. "Canada can", (Kanada kann es) betont Trainer Herdman. "Das ist eine echte Fußball-Nation”, so der Engländer stolz.  

2011 war er nach Kanada gekommen, hatte die Frauen-Nationalmannschaft trainiert und sie 2012 sowie 2016 jeweils zu Bronze bei den Sommerspielen geführt. Obwohl Herdman seit Anfang 2018 die Männer coacht, habe er großen Anteil am Gold der Kanadierinnen vergangenen Sommer in Tokio gehabt, heißt es. Nun ist der 46-Jährige der erste Trainer der Fußball-Geschichte, der ein Frauen- und ein Männerteam zur WM geführt hat.

Alphonso Davies weint vor Glück

Herdman’s Star ist Alphonso Davies. Der 21-Jährige von FC Bayern München schluchzte, rund 6.500 Kilometer von Toronto entfernt in der bayerischen Landeshauptstadt, als die Partie vorbei war. Davies hat wegen Herzmuskel-Problemen die vergangenen fünf Qualifikationsspiele verpasst. Trotzdem führte Kanadas Weg schnurstracks nach Katar.

Denn die Mannschaft hat mit Milan Borjan (Roter Stern Belgrad), Stephen Eustaquio (FC Porto), Tajon Buchanan (FC Brügge) Jonathan David (OSC Lille) sowie Kapitän Atiba Hutchinson und Cyle Larin (beide Besiktas Istanbul) mittlerweile zahlreiche Spieler, die bei durchaus namhaften europäischen Vereinen spielen.

Lange Leidenszeit

Hutchinson nannte die Qualifikation das "schönste Gefühl überhaupt" - und sprach davon, dass man "sehr lange auf diesen Moment gewartet" habe. Mehr konnte er nicht sagen, denn Mitspieler sprangen in sein Interview und gossen Champagner über seine Glatze.

Hutchinson ist der einzige Spieler, der schon auf der Welt war, als Kanada sich 1985 durch einen 2:1-Heimsieg gegen Honduras für die WM ein Jahr später in Mexiko qualifiziert hatte. Doch das interessierte im zweitgrößten Land der Erde damals kaum. Im Gegenteil. Das Team wurde, wie der damalige Nationaltrainer Tony Waiters einst in einer Dokumentation beklagte, "öfter vom Trainingsplatz gescheucht, weil jemand ankam und meinte, wir dürften da nicht rauf."

Einige Profis spielten Hallenfußball

Kanada hatte damals einige Akteure, die hauptsächlich Hallenfußball spielten, weil es nach der Einstellung der North American Soccer League (NASL) 1984 keine professionelle Liga mehr in Nordamerika gab. Und da die Gruppengegner in Mexiko Europameister Frankreich, Sowjetunion und Ungarn hießen, lautete die am häufigsten gestellte Frage vor Turnierbeginn nicht, ob der WM-Neuling wohl ein Spiel gewinnen könne, sondern ob er überhaupt ein Tor schießen würde. Die Quote einiger Wettanbieter lag bei 300:1. Zu Recht, wie sich herausstellte. Kanada reiste mit drei Niederlagen und 0:5 Toren wieder ab.

Was blieb? "Nichts", erinnert sich Bob Lenarduzzi, damaliger Leistungsträger. "Einen signifikanten WM-Effekt gab es nicht. Denn wir hatten uns jahrzehntelang nicht mehr für eine WM qualifiziert", so Lenarduzzi. Kleine Nationen wie Jamaika, Trinidad & Tobago oder Panama hatten es auf die größte Fußball-Bühne geschafft. Kanada hingegen scheiterte oft schon früh in der Qualifikation.

Abfuhr von Honduras und Absage von Hargreaves

Der Tiefpunkt: eine 1:8-Niederlage 2012 in Honduras. Vielleicht hätte Owen Hargreaves die Leidensjahre schon früher beenden können. Er wurde in Calgary geboren und galt als größtes kanadisches Talent. Doch der Mittelfeldmann, der später bei Bayern München und Manchester United spielte, entschied sich für England, die Heimat seines Vaters.

 "Sportsnet.ca" schrieb nach dem gebuchten Katar-Ticket von einem "Augenblick der grundlegenden Veränderung für die Sportkultur im Land." Die zahlreichen Erfolge im Eishockey, Kanadas Nationalsport, seien schön und gut, hieß es. Aber sie seien eben in einem Sport erzielt worden, den nicht allzu viele Nationen betreiben.

Team als Spiegelbild des Einwanderungslandes Kanada

Die Fußball-WM hingegen sei "das wichtigste Sportevent der Welt". Zugleich sei das Interesse an Fußball in Kanada so groß wie noch nie. Das liegt auch an der Zusammensetzung dieser Mannschaft. Sie ist ein Spiegelbild des Einwanderungslandes Kanada. Die Familien der Spieler kamen einst aus Haiti, Portugal, England, Kolumbien, Serbien, oder, wie bei Alphonso Davies, aus dem vom Bürgerkrieg verwüsteten Liberia nach Kanada.

Unter anderem ihre Söhne hätten durch die WM-Qualifikation nun "Soccer zum Nationalsport" gemacht, schrieb Kanadas zweitgrößte Zeitung, "The Globe and Mail". Bis auf Kapitän Hutchinson und Torwart Borjan sind alle Leistungsträger noch jung. Sie könnten somit, angeführt von Davies, das Gerüst bilden für die WM 2026. Kanada ist bereits qualifiziert, als Gastgeber zusammen mit Mexiko und den USA.