EURO-Halbfinale Italien - Spanien Mancini gegen Enrique - Magier gegen Dickkopf

Stand: 06.07.2021 06:00 Uhr

Das EURO-Halbfinale zwischen Italien und Spanien ist auch das Duell zweier außergewöhnlicher Trainertypen: auf der einen Seite "Magier" Roberto Mancini, auf der anderen "Dickkopf" Luis Enrique. Und einer hat auch noch eine persönliche Rechnung mit dem Gegner offen.

Nur einem von ihnen kann der ganz große Coup bei dieser EURO gelingen: Italiens Nationaltrainer Roberto Mancini oder Spaniens Chefcoach Luis Enrique. Am Dienstag (06.07.2021) treffen sie sich im EM-Halbfinale im Londoner Wembley-Stadion. EIn Stück Geschichte haben aber bereits beide bei dieser Europameisterschaft geschrieben. "Viele Aspekte verbinden die beiden Nationalmannschaften: Sowohl Mancini als auch Enrique haben die Mannschaften in die Hand genommen und sie neu gegründet", befand etwa der "Corriere dello Sport".

Mancini, der Magier

Mancini wird derzeit nicht nur im eigenen Land gefeiert, sondern in ganz Europa. Der 56-Jährige hat nämlich viel mehr erreicht, als die "Squadra Azzura" ins Halbfinale der EURO zu bringen. Er hat den italienischen Fußball an sich neu erfunden, die "Nazionale" weggeführt vom zuweilen sehr erfolgreichen, aber Fußball-Ästheten wenig begeisternden Ergebnisfußball. Nicht von ungefähr hat ihm die internationale Presse den Spitznamen "Magier" verpasst.

Vollkommen ungewohnt offensiv

Nach der verpassten WM 2018 hat Mancini das Team vollkommen runderneuert. Natürlich setzt auch er auf eine solide Verteidigung, doch den berüchtigten Catenaccio hat er ad acta gelegt. Vielmehr noch, seine Mannschaft begeistert mit ungewohntem Offensivfußball, verwaltet keinen Vorsprung, sondern will sofort den nächsten Treffer nachlegen. Mancini ist ein Fan des offensiven 4-3-3-Systems.

Ein verschworener Haufen

Darüber hinaus hat es Mancini geschafft, eine verschworene Einheit aus seinen Spielern zu formen. Die Stärke seiner Mannschaft ist auch, stets als Kollektiv aufzutreten. Szenen wie die spektakuläre Rettungstat des überragenden Leonardo Spinazzola, der im Viertelfinale gegen Belgien (2:1) erst auf der Linie klärte und dafür von seinen Mitspielern überschwänglich geherzt wurde, veranschaulichen dies nachdrücklich.

Lob von Lippi

Dass Mancinis Spieler gelungene Abwehraktionen wie Tore feiern, verweist ebenfalls auf einen besonderen Teamgeist. Das ist auch Marcello Lippi, dem Weltmeister-Trainer von 2006, nicht entgangen: "Keiner fühlt sich als Superstar, der besser ist als die anderen", sagt er über den Zusammenhalt der aktuellen Mannschaft. Und "die Moral, die Lust, ein Teil des Teams zu sein, in dem alle ihre Qualitäten in den Dienst der Mannschaft stellen", erinnerten ihn an die Binnenstruktur seiner Weltmeister-Mannschaft.

Auf der Jagd auch nach dem Weltrekord

Italien gewann die vergangenen 13 Länderspiele in Folge und ist seit 32 Länderspielen ungeschlagen (27 Siege, fünf Remis) - beides Rekorde für den italienischen Verband. Nun jagen die Italiener den von Spanien und Brasilien gehaltenen Weltrekord von 35 Länderspielen in Folge ohne Niederlage. Die Spanier haben es selbst in der Hand, den Verfolger aus Italien in die Schranken zu verweisen.

Erst beißende Kritik am Dickkopf

Noch nicht ganz so hell wie Mancinis strahlt Luis Enriques Stern, doch er ist auf einem guten Weg und hat die Selección seit 2019 auf hohem Niveau international stabilisiert. Nach zwei Vorrundenspielen ohne Sieg sah er sich allerdings schon beißender Kritik ausgesetzt. Die heimische Presse haute ihm nicht nur um die Ohren, dass er nicht einen Spieler von Real Madrid für die EM nominiert habe.

Enrique zieht sein Ding durch

Kritisiert wurde auch, dass seine Mannschaft mental nicht allzu belastbar sei, ebenso, dass er in Àlvaro Morata den falschen Stürmer und in Unai Simón den falschen Torhüter aufgestellt habe. Doch Enrique, der ebenso scharfzüngig wie dickköpfig sein kann, zog sein Ding durch.

Sein Plan ging auf, wenn auch mit ein bisschen Glück: Nach zwei Spielen mit je fünf Treffern gelang zuletzt der Sieg im Elfmeter-Krimi gegen die Schweiz - auch weil im Tor einer stand, an dem Dickkopf Enrique festgehalten hatte.

Handschrift unverkennbar

Wenngleich die spanische Mannschaft von Glanz und Gloria früherer Tage noch ein Stück weit entfernt ist, überzeugt sie inzwischen doch auch spielerisch. Es ist zwar nicht mehr dieser schon überirdische Dominanzfußball in Perfektion wie beim WM-Sieg 2010, aber Enriques Handschrift ist unverkennbar.

Mannschaft aus dem Nichts erschaffen

Sein Spielsystem ist inspiriert vom Stil seines Ex-Klubs FC Barcelona: immer noch auch Tiki-Taka, aber robuster, kämpferischer. Er lässt wie Mancini im offensiven 4-3-3-System spielen. Und so haben die Spanier schon mal zwei Bestmarken markiert. Sie haben bislang die meisten Turniertore geschossen, nämlich zwölf, und sie führen die Ballbesitzstatistik mit im Schnitt 67,2 Prozent an. Die Zeitung "Sport" schrieb: "Luis Enrique, der Anführer, der eine Mannschaft aus dem Nichts erschaffen hat."

Als Spieler nie in einem Halbfinale

Enrique steht erstmals bei einer EM oder WM im Halbfinale, in seiner Spieler-Karriere war ihm das nicht vergönnt gewesen. Da hat er zwar an drei Weltmeisterschaften (1994, 1998, 2002) und einer Europameisterschaft (1996) teilgenommen, war aber dreimal im Viertelfinale und einmal in der Gruppenphase gescheitert.

Nachdem Spanien bei der WM 2014, der EM 2016 und der WM 2018 frühzeitig ausgeschieden war, stehen die Iberer mit Enrique nun erstmals seit neun Jahren wieder in einem Halbfinale. Bei der EM 2012 wurde dann ja auch der Titel geholt. Zudem ist Spanien seit 13 Länderspielen ungeschlagen, die letzte Niederlage gab es im Oktober 2020 in der Nations League in der Ukraine (0:1). Allerdings waren darunter viele knappe Spiele, es gab nur sechs Siege und sieben Unentschieden. Doch sollte Enrique tatsächlich den EM-Titel holen, zählen Bilanzen wie diese nicht mehr.

Noch eine Rechnung offen

Derweil beschäftigt Spanier wie Italiener ein Vorfall bei der WM 1994 mit Enrique und Mauro Tassotti als Hauptdarsteller. Im Viertelfinale rammte der Italiener in der Nachspielzeit im Strafraum seinen Ellenbogen in Enriques Gesicht, seine Nase brach. Einen Elfmeter gab es jedoch nicht, und die Italiener gewannen 2:1.

Spanische Medien berichteten nun, Enrique trachte in London nach einer persönlichen "Vendetta". Die Italiener hingegen beschwichtigten, er habe "bestimmt nicht vergessen, doch er hat verziehen".

Tatsächlich dürfte Enrique nur den Blick aufs Sportliche richten. Auf die Partie angesprochen, gab er die Parole der spanischen Delegation denn auch sehr nüchtern aus: "Wir alle wollen ins Finale."