Englands Nationalspielerin Beth Mead (M.) und Trainerin Sarina Wiegman nach einem Spiel auf dem Platz.

England träumt vom EM-Titel "Lionesses" zwischen Euphorie und neuer Anspannung

Stand: 27.07.2022 12:18 Uhr

Jubel und Erleichterung herrschten am Dienstagabend in Sheffield, wo die englische Nationalmannschaft mit einem 4:0-Erfolg gegen Schweden den ersten Einzug in ein EM-Finale seit 2009 perfekt gemacht hat. Doch der Druck auf das Team von Trainerin Sarina Wiegman bleibt hoch, denn gemessen wird die Mannschaft einzig und allein am Titelgewinn. Den erhofft die Öffentlichkeit genauso wie das Team selbst.

Von Uli Petersen

Keeperin Mary Earps und ihre Teamkolleginnen tanzten und jubelten am Dienstag (26.07.2022) nach dem Schlusspfiff auf dem Rasen an der Bramall Lane in Sheffield, und die knapp 30.000 Fans im Stadion blieben auf ihren Plätzen. Sie wollten einfach nicht nach Hause gehen - sie sangen, klatschten, fotografierten und filmten, was das Zeug hielt.

Die überschwängliche Freude über den Einzug ins Endspiel nach dem Sieg gegen Schweden war nicht zu übersehen. Die Ehrenrunde der "Lionesses" dauerte dementsprechend lang - fast eine halbe Stunde dauerte diese "Verlängerung" der besonderen Art.

Auch Prinz William hofft auf den Titel

Glückwünsche kamen nach der Partie von allen Seiten - und auch von höchster Stelle: Prinz William, der auch Präsident des englischen Fußballverbands ist, hatte den "Lionesses" kurz vor dem Spiel viel Glück gewünscht und twitterte nach dem Schlusspfiff: "Wir glauben an euch und werden euch bis zum Ende unterstützen." Auch er - so kann man es herauslesen - hofft auf den großen Erfolg im Finale. Ob der Prinz damit den Druck noch weiter erhöht?

Fest steht: England hat bei dieser EM fünf Spiele größtenteils eindrucksvoll gewonnen und dabei nur ein Gegentor kassiert, die Mannschaft hat ihre Klasse mehrfach unter Beweis gestellt. Die Mission aber lautet nicht, das Finale zu erreichen, sondern es zu gewinnen.

England kann die Gunst der Stunde nutzen

Der BBC-Journalist Phil McNulty schrieb nach dem Sieg gegen Schweden, dass die englische Nationalmannschaft nie wieder eine bessere Chance haben werde als dieses Mal, den EM-Titel zu gewinnen. Wer will ihm widersprechen?

Die Fans, die bei der "magischen Halbfinal-Nacht" an der Bramall Lane dabei waren, jedenfalls nicht: "Niemand kann England daran hindern, das Turnier zu gewinnen", schrie ein Junge ins ARD-Mikrofon. Ob er Recht hat oder nicht, wird sich im Endspiel am Sonntag (31.07.2022, 18 Uhr MESZ, live im Ersten und bei sportschau.de) zeigen.

Junge England-Fans im Stadion auf der Tribüne mit angemalten Gesichtern.

Auch den ganz jungen Fans im Stadion ist die Anspannung anzusehen.

Mead ist "unglaublich stolz auf die Mannschaft"

Bei den Spielerinnen hielten sich nach dem Schlusspfiff, als die Halbfinal-Anspannung von ihnen abgefallen war, Jubel und Erleichterung in etwa die Waage. "Ich bin unglaublich stolz auf die Mannschaft. Diese Nacht macht auch uns als Nation einfach stolz", sagte Beth Mead, die mit einem Tor und zwei Vorlagen zu Recht zur "Spielerin des Spiels" gewählt wurde.

Fran Kirby, Schützin zum 4:0-Endstand, gab im UEFA-Interview die Marschroute aus: "Ich bin super-glücklich, dass wir es ins Finale geschafft haben. Aber das feiern wir jetzt nicht zu doll, denn wir haben noch eine Aufgabe zu erledigen."

Stanway: "Ich drücke Deutschland im Halbfinale die Daumen"

Auch Georgia Stanway, die mit ihrem Tor gegen Spanien England erst ins Halbfinale geschossen hatte, blickte - mit einem Partyhut auf dem Kopf - noch im Jubelrausch schon wieder nach vorne: "Die Fans waren in jedem einzelnen Spiel bisher fantastisch. Ich hoffe, sie kommen alle nach Wembley."

Für das Finale vor fast 90.000 Zuschauern wünscht sich die Neuverpflichtung des FC Bayern München als Gegner Deutschland: "Ich drücke ihnen im Halbfinale gegen Frankreich die Daumen." Es wäre auch die Chance zur Revanche: 2009 verloren die Engländerinnen im EM-Finale ausgerechnet gegen die DFB-Elf mit 2:6.

Mehr als eine halbe Million Zuschauer in den Stadien

Im vielzitierten Mutterland des Fußballs ist die Begeisterung groß, dass das vor fast zehn Jahren ins Leben gerufene Förderprogramm, mit dem mehr Mädchen und Frauen für die Sportart begeistert werden sollen, mittlerweile Früchte trägt. Vom bisher größten Turnier in der 39-jährigen EM-Geschichte - mit am Ende mehr als einer halben Million Zuschauern in den Stadien - erhoffen sich viele einen weiteren Push für den Fußball der Frauen. "Die Investitionen der FA und alle, die mit dem Frauenfußball zu tun haben, haben auf diesen Moment gewartet", sagte die frühere englische Nationaltorhüterin Karen Bardsley nach dem Sieg gegen Schweden in der BBC.

Wright: Jetzt sind die Schulen und Vereine am Zug

Dass so viele Zuschauer die Spiele in den Stadien und im Fernsehen verfolgen - allein in Deutschland sahen fast 5,4 Millionen Menschen die Halbfinal-Übertragung im Ersten -, sei fantastisch, so Bardsley: "Ich glaube nicht, dass sich die Leute darüber im Klaren sind, welche Auswirkungen dies auf den Frauenfußball in diesem Land haben wird. In fünf oder zehn Jahren wird dies die Norm sein."

Ex-Nationalspieler Ian Wright sieht die Schulen und Vereine am Zug - auch wenn England den Titel nicht gewinnen sollte: "Was auch immer im Finale passiert: Die Mädchen müssen genauso wie die Jungen im Sportunterricht Fußball spielen dürfen. Erst das wird viele inspirieren und zu dieser Sportart bringen."

Schwedinnen decken Schwächen der "Lionesses" auf

Dass die Engländerinnen auf der momentanen Euphoriewelle im Land nicht von selbst zum ersten EM-Titel ihrer Fußballgeschichte surfen werden, dürfte den Spielerinnen und Trainerin Wiegman selbst durchaus klar sein. Die Schwedinnen zeigten in der ersten halben Stunde des Halbfinals, wie das Offensivspiel der "Lionesses" aus dem Takt zu bringen ist - und dass die Gastgeberinnen trotz ihrer imposanten 20:1 Tore im Turnier auch defensiv durchaus anfällig sind.

Feier-Modus off - Arbeits-Modus on

Das Vorhaben, ausgerechnet im eigenen Land vor den eigenen Fans den ersten großen Titel für England seit dem Finalerfolg des Männerteams 1966 gegen Deutschland einzufahren, ist Lust und Last zugleich. Im Auftaktspiel gegen Österreich, im schweren Viertelfinale gegen Spanien und auch gegen Schweden musste erst die Nervosität weichen, ehe sich der Erfolg einstellte.

Wiegman muss also in den fünf Tagen bis zum großen Finale im ausverkauften Londoner Wembley-Stadion zusammen mit ihrem Team das Kunststück hinbekommen, vom Feier-Modus aus Sheffield wieder in den konzentrierten Arbeits-Modus umzuschalten - und das Drumherum in der britischen Presse ("Ein England-Team wie kein anderes") und Öffentlichkeit auszublenden.

Englands Nationaltrainerin Sarina Wiegman

Englands Nationaltrainerin Sarina Wiegman gewann 2017 den EM-Titel mit den Niederlanden.

Trainerin Wiegman bringt das "EM-Titel-Gen" mit

Ein großer Vorteil der niederländischen Trainerin: Sie weiß im Gegensatz zu ihren Spielerinnen bereits, wie es funktioniert und wie es sich dann anfühlt, einen großen Titel vor den eigenen Fans zu gewinnen: 2017 triumphierten die Niederländerinnen zu Hause im Endspiel gegen Dänemark. Auch damals war erst der Druck riesengroß - und dann der Jubel und die Euphorie.

Dieses Thema im Programm: Das Erste | Sportschau | 26.07.2022 | 20:15 Uhr