Die deutsche Hindernisläuferin Gesa Krause
analyse

Leichtathletik-EM in Rom EM-Bilanz - Viel Arbeit, aber auch Hoffnung vor Paris

Stand: 13.06.2024 11:34 Uhr

Die allergrößten Trümpfe im deutschen Team stachen bei der Leichtathletik-EM. Doch die Ausreißer nach oben blieben insgesamt überschaubar. Bis Paris wartet noch Arbeit auf die Olympia-Starter. Italien überragte beim Heimspiel in Rom.

Von Bettina Lenner, Rom

Am Schlusstag polierten die größten deutschen Hoffnungsträger die bis dato überschaubare Medaillenbilanz des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV) noch einmal gehörig auf: Malaika Mihambo flog mit dem zweitweitesten Sprung ihrer Karriere zu Weitsprung-Gold, das einzige für den DLV bei dieser EM. Speerwerfer Julian Weber verpasste seine erfolgreiche Titelverteidigung nur knapp und gewann Silber.

Dazu gab es Bronze für Stabhochspringer Oleg Zernikel, der auch die Olympia-Fahrkarte zog, sowie die Männer-Staffeln über 4x100 und 4x400 m - und damit Überraschungsmomente, die dem deutschen Team bis dato zumindest zählbar ein wenig gefehlt hatten.

"Der EM-Abschlusstag hat gezeigt, welches Potenzial in der deutschen Leichtathletik steckt. Nach zunächst überwiegend Medaillen im Laufbereich konnten wir jetzt im Sprung, Wurf und Sprint nachlegen", sagte DLV-Vorstand Leistungssport Dr. Jörg Bügner. "Dabei haben wir mehrere Leistungen gesehen, mit denen die Athletinnen und Athleten auch im Weltmaßstab absolute Spitze sind - allen voran im Weitsprung die 7,22 m von Malaika Mihambo."

Elf Mal Edelmetall für das DLV-Team

Insgesamt sammelte das deutsche Team elf Mal Edelmetall bei den kontinentalen Titelkämpfen in der italienischen Hauptstadt, einmal Gold durch Mihambo sowie dreimal Silber und sieben Mal Bronze. In der Nationenwertung schob sich Deutschland noch auf Platz drei vor, hinter dem überragenden Gastgeber Italien und Frankreich.

Italien beim Heimspiel furios

Mit dem Ergebnis nach rauschhaften Tagen vor zwei Jahren bei der Heim-EM in München können diese Statistiken nicht mithalten. Das war auch nicht zu erwarten. Seinerzeit war die DLV-Auswahl mit je siebenmal Gold und Silber sowie zweimal Bronze die Nummer eins in der Nationenwertung gewesen, diesmal trumpften die Italiener bei ihrem Heimspiel mit sage und schreibe 24 Medaillen groß auf (11/9/4).

Sagenhaft, aber auch im Vorwege von Hochsprung-Olympiasieger und Italiens Capitano Gianmarco Tamberi siegesgewiss angekündigt, der unter den Augen von Präsident Sergio Mattarella nicht nur selbst eine Riesenshow lieferte, sondern auch einen überragenden Wettkampf. Paris kann kommen für die Azzurri.

Mihambo bekommt selbst Gänsehaut

Auch für Mihambo, die sich rechtzeitig zum ersten Saison-Höhepunkt in Bestform präsentierte und in Rom gleich dreimal die magische Sieben-Meter-Marke knackte. Das war ihr in dieser Saison noch nicht gelungen. Besonders der phänomenale, fast perfekte Satz auf 7,22 m gibt der 30-Jährigen Selbstvertrauen für die Sommerspiele, wo sie als erste Weitspringerin zum zweiten Mal in Folge Olympiasiegerin werden könnte.

"Ich freue mich auf Paris", sagte sie nach ihrer Wahnsinnsvorstellung, die ihr selbst eine Gänsehaut bereitete vor lauter Glück über die "außergewöhnliche Leistung".

Die Stars glänzen und liefern Rekorde

Viele andere deutschen Olympia-Starter haben dagegen knapp sieben Wochen vor dem Mega-Sportevent in Frankreich noch Arbeit vor sich. Es fehlte manch ein dickes Ausrufezeichen bei der viel zitierten Standortbestimmung in Rom, während die Konkurrenz schon mit Bestmarken und Weltklasse-Leistungen auftrumpfte. Die Meisterschaftsrekorde purzelten nur so im meist durchwachsen besuchten, aber stimmungsvollen Stadio Olimpico. Die Stars um Armand Duplantis, Karsten Warholm, Femke Bol, Jakob Ingebrigtsen, Nafi Thiam und Co. glänzten und sorgten neben den Italienern für Leichtathletik-Festspiele der Extraklasse.

DLV-Sportvorstand Bügner sieht "kleine Trendumkehr"

Die DLV-Athletinnen und -Athleten spielten dabei oft eine gute, aber eher selten eine Hauptrolle. Verbands-Sportvorstand Jörg Bügner erkannte im Vergleich zur historisch schlechten WM in Budapest im vergangenen Jahr eine "kleine Trendumkehr", aber zugleich auch "überhaupt keinen Grund, euphorisch zu werden." Ein deutliches Aufbäumen waren die kontinentalen Titelkämpfe nach der medaillenlosen WM in Ungarn noch nicht.

Krause begeistert nach Babypause

Für eins der Highlights am Tiber sorgte indes eine Athletin, die an der Donau gefehlt hatte - und das aus gutem Grund. Gesa Krause präsentierte sich nur ein Jahr nach der Geburt ihrer Tochter schon wieder in Top-Form und rannte zu Silber über 3.000 m Hindernis.

In Deutschlands neuer Paradedisziplin spurtete zudem Karl Bebendorf in CR7-Unterhose beseelt zu Olympia-Norm und Bronze - die erste deutsche EM-Medaille für Hindernis-Männer seit 1998. Frederik Ruppert, der es noch über die Rangliste zu den Sommerspielen schaffen dürfte, vervollständigte als Vierter den starken Auftritt der DLV-Asse in dieser kniffligen Disziplin.

Läufer mit positiven Überraschungen

Zu den positiven Überraschungen zählten zudem der Staffel-Dritte Emil Agyekum, der über 400 m Hürden in persönlicher Bestzeit von 48,36 Sekunden auf Platz drei der ewigen deutschen Bestenliste lief und im Finale auf Platz sechs, sowie die jahrelang schwächelnden 100-m-Sprinter um Owen Ansah. Der Hamburger wurde beim Triumph von Italiens Olympiasieger Marcell Jacobs Fünfter, bevor er mit der Staffel sogar auf dem Treppchen stand.

Auch Robin Ganter schaffte es ins Finale, konnte dort aber wegen Muskelproblemen nicht antreten. Seit 2014 in Zürich hatte kein DLV-Sprinter mehr das 100-m-Finale einer EM erreicht. Majtie Kolberg, am Ende Fünfte, überzeugte über 800 m ebenfalls mit starken Auftritten und steigerte sich auf 1:58,74 Minuten.

Hammerwerfer Hummel gehört die Zukunft

Hammerwerfer Merlin Hummel warf sich in Rom endgültig in die europäische Spitze, der 22-Jährige verbesserte seine Bestmarke gleich zweimal bis auf 79,25 m - Olympia-Norm und Rang vier in einem Weltklasse-Feld. Er weiß, ihm gehört die Zukunft: "Die anderen sind alle ein paar Jahre älter, die hole ich mir noch."

Kugelstoßerin Yesimi Ogunleye hat das schon getan, wurde in der Halle Überraschungs-Vizeweltmeisterin. In Rom freute sie sich über ihren dritten Platz, und im Halbmarathon, wo es Silber für die Frauen gab, war auch der deutsche Rekordhalter Amanal Petros letztlich zufrieden mit Bronze als Solist und mit dem Team. Doch der Gesamteindruck blieb wie so oft in dieser EM-Woche: Da hätte noch mehr drin sein können.

Blackout bei Sprinter Hartmann

Auch für Joshua Hartmann, der sich für das 200-m-Finale viel vorgenommen hatte. Doch der Sprinter mit dem Riesenpotenzial taumelte einen Tag nach seinem 25. Geburtstag zum Fehlstart und zur Disqualifikation. Ein Blackout, geplatzte Träume, mal wieder. Er werde daraus lernen, sagte der deutsche Rekordhalter (20,02) - das hat man von ihm schon öfter gehört. Eingelöst hat er dieses Versprechen in Rom nicht.

Bügner: "In einigen Disziplinen nicht performt"

Auch die Siebenkämpferinnen blieben hinter den Erwartungen zurück, Carolin Schäfer und Sophie Weißenberg brachen den Wettkampf ab. Im Hochsprung lief ebenfalls deutlich weniger als erhofft, das hochgehandelte Frauen-Trio um Europas Jahresbeste Marike Steinacker verließ im entscheidenden Moment versammelt die Kunstfertigkeit des Diskuswurfs. "Unfähig" nannte Shanice Craft, EM-Dritte von 2014, 2016 und 2018, ihre Performance ohne große Umschweife.

"Die sechs Tage von Rom insgesamt haben uns Stärken und Schwächen aufgezeigt. Wir haben in bestimmten Bereichen einen Schritt nach vorn gemacht, in einigen Disziplinen jedoch nicht performt", konstatierte Bügner. "Wir werden in den nächsten Wochen analysieren, wie wir eine Formzuspitzung hinbekommen und dies in Paris umsetzen - hoffentlich in Medaillen."

Niveau auf der Weltbühne deutlich höher

Das wird schwer genug. Schon in Europa habe das Niveau enorm angezogen, stellte Gina Lückenkemper fest, die von ihrer ersten Final-Teilnahme bei Olympia träumt. In Rom musste sich die Titelverteidigerin im 100-m-Finale mit Platz fünf begnügen, nach dem Triumph mit der Staffel vor zwei Jahren wurde es diesmal Rang vier.

Auf der Weltbühne ist die Klasse mit den starken US-Amerikanern und Afrikanern noch einmal auf einem deutlich höheren Level, vor allem in den Bereichen Lauf und Sprung. Ein Ergebnis wie bei der enttäuschenden WM in Budapest soll es dennoch nicht noch einmal geben.

Neugebauer reift in der Ferne zum Goldkandidaten

Muss es auch nicht, denn es gibt einige Hoffnungsträger. Neben Mihambo ist das in Paris vor allem Zehnkämpfer Leo Neugebauer, der auf Rom verzichtet und stattdessen an den College-Meisterschaften in den USA teilgenommen hatte. Mit 8.961 Punkten verbesserte er seinen eigenen deutschen Rekord und ist nun bei den Spielen Favorit auf Gold.

Auch der entthronte Europameister Niklas Kaul will nach Rang vier und einem Zehnkampf mit Höhen und Tiefen die Schwachstellen bis Paris ausmerzen und kann bei zwei perfekten Tagen in den Medaillenkampf eingreifen. Speerwerfer Weber zählt ebenfalls zu den Mitfavoriten. Und dann? Gibt es noch einige Chancen - wenn mehr Ausreißer nach oben gelingen als in den Tagen der EM in Rom.

Dieses Thema im Programm: Das Erste | Sportschau | 11.06.2024 | 09:55 Uhr