Fans des FC Turin mit einem großen Banner. Im Vordergrund: Die Mannschaft

Serie A Il Grande Torino - das Derby der Gegensätze

Stand: 14.10.2022 08:33 Uhr

In Turin steht das 183. "Derby della Mole" an. Nach vielen Jahren will der FC Turin endlich wieder einen Erfolg gegen Juventus. Den in der Stadt immer noch zahlreichen Fans von "il Toro" macht Juves derzeitige Formkrise Hoffnung. Hoffnung auf einen kleinen Glücksmoment in der an unglücklichen Zeiten reichen Geschichte des FC Turin.

Von Jörg Seisselberg, ARD Studio Rom

T wie Torino. T wie Titel. T wie Tragödien. T wie treue Tifosi. Kein Fußballklub der Serie A ist so legendenreich wie der FC Turin, in Italien "il Torino" oder kurz "il Toro" genannt. Im anstehenden Derby will der siebenfache Meister aber nicht unbedingt ein weiteres Kapitel fürs Geschichtsbuch schreiben. Für den "einzig wahren Klub in Turin", wie die Fans finden, würde schlicht mal wieder ein Sieg gegen Juventus reichen.

Die Gelegenheit erscheint günstig. Lokalrivale Juve steckt in der tiefsten Krise seit dem Zwangsabstieg 2006. In der Woche verlor Italiens Rekordmeister in der Champions League sogar gegen Maccabi Haifa. Wann, wenn nicht jetzt, wäre es mal wieder Zeit für einen Derbyerfolg? Torino hat zuletzt 14 Mal nacheinander nicht mehr gewonnen im sogenannten "Derby della Mole".

Knausriger Vereinsbesitzer?

Die Hoffnungen des FC Turin auf bessere Zeiten ruhen unter anderem auf Ivan Juric. Der Kroate ist seit gut einem Jahr Torino-Trainer und gilt als einer der innovativsten Übungsleiter der Serie A. Er predigt Pressing, der FC Turin war in der vergangenen Saison die Mannschaft mit dem meisten Ballbesitz in des Gegners Hälfte. Aber auch Juric hat aus Torino noch nicht wieder ein Spitzenteam formen können. Auch weil der Präsident und Vereinsbesitzer Umberto Cairo bei Spielerverpflichtungen eher knausrig ist.

Mit Nationalstürmer Andrea Belotti und dem brasilianischen Topverteidiger Bremer hat der FC Turin seine beiden Spitzenspieler in diesem Sommer abgegeben. Das nun wenig namhafte Team (in der der Ex-Wolfsburger Ricardo Rodriguez sowie der früheren Gladbach- und Hertha-Spieler Valentino Lazaro dabei sind) hat, ähnlich wie Juventus, derzeit nicht seinen besten Lauf. Nach gutem Start aber zuletzt vier sieglosen Spielen hat sich Torino im Tabellenmittelfeld eingerichtet. Wie so häufig in den vergangenen Jahren.

Mythos FC Turin

Es gab Zeiten, da war das anders. Der Mythos FC Turin wurde in den 40er Jahren geboren. Genauer: der Mythos "il Grande Torino". Zehn von elf Nationalspielern Italiens trugen damals das granatrote Trikot mit dem Stier (italienisch: toro) im Wappen, Torino wurde fünfmal in Folge Meister. Dann kam der 4. Mai 1949.

Die Mannschaft war auf dem Rückflug von einem Freundschaftsspiel bei Benfica Lissabon. Es war neblig, der Höhenmesser im Flugzeug defekt und der Pilot steuerte die Maschine gegen die Außenmauern der über Turin liegenden Basilika von Superga. 31 Menschen kamen ums Leben, darunter zehn Torino-Spieler.

Auch der Kapitän Valentino Mazzolo, Vater des späteren Inter-Spielers Sandro, der von den Menschen in Italien damals verehrt wurde wie Fritz Walter in Deutschland. Eine halbe Million Menschen kamen zur Beerdigung.

Der George Best Italiens

"Der Tag, an dem Italiens Fußball starb", überschrieb die "Neue Züricher Zeitung" einen Artikel zum Jahrestag der Tragödie. "Superga" und die Geschichte der Mannschaft um Valentino Mazzola haben sich bis heute in der Erinnerung des Landes eingebrannt. Ein mehrteiliger Fernsehfilm der "RAI" über "Il Grande Torino" erzielte 2005 Einschaltquoten wie ein Fußballländerspiel. Das Olympiastadion, das der FC Turin seit 15 Jahren als heimische Arena nutzt, heißt offiziell "Stadio Olimpico Grande Torino".

"Superga" ist aber nicht der einzige unfassbare Moment in der Torino-Geschichte. Denn da ist noch Gigi Meroni. "Wie ein Schmetterling", schrieb damals ein Sportjournalist, flatterte der technisch elegante Außenstürmer in den 1970er Jahren seinen Gegenspielern davon. Der George Best Italiens. Sechsmals spielte Meroni in der Nationalmannschaft, machte zwei Tore.

Seine Karriere und sein Leben endeten am 15. Oktober 1967 auf einem Zebrastreifen in Turins Innenstadt. Totgefahren von einem 19jährigen Torino-Anhänger, Attilio Romero. Eine echte Gänsehautgeschichte: Dieser Attilio Romero wurde 33 Jahre später Torino-Präsident. Der Unglücksautofahrer und spätere Journalist rieb sich auf in der Rettung des finanziell angeschlagenen Klubs, nahm es mit der Buchführung nicht immer so genau und musste 2005 den Konkurs Torinos anmelden.

Tief verwurzelt in Turin

Sofort danach hat Umberto Cairo den neugegründeten FC Turin übernommen. Der 65 Jahre alte Geschäftsmann ist Besitzer der RCS-Zeitungsgruppe und damit auch der "Gazzetta dello Sport". Italiens größte Sportzeitung, mit ihrem Sitz in Mailand traditionell eher Inter- und Milan-orientiert, berichtet nun jeden Tag ausführlich auch über den FC Turin. Die Torino-Anhänger aber würden sich von Cairo nicht nur mehr Zeitungsartikel, sondern auch mehr Investitionen in die Mannschaft wünschen.

Seit der Superga-Katastrophe und dem tragischen Ende der vielleicht besten Mannschaft, die Italiens Fußball je hatte, ist "Il Grande Torino" selten über Mittelmaß hinausgekommen. Lediglich 1976 schafften es die Granat-Roten noch einmal zu einem Meistertitel. In Turin aber ist die Identifikation mit dem Verein nach wie vor tief verwurzelt. Während Juventus (für Toro-Fans nur die "Fiat-Betriebsmannschaft") weltweit Millionen Fans hat, halten sich in der Stadt Turin die Zahlen der Torino- und der Juventus-Anhänger die Waage.

Keimzelle der italienischen Ultras

Die Fans des FC Turin gelten aber nicht nur als treu, sondern auch als innovativ, als eine Art Avantgarde in Italien. Viele Neuerungen in der Fanszene haben in der Torino-Kurve ihren Ursprung. Die 1951 gegründeten "Fedelissimi Granata" gelten als die Keimzelle der italienischen Ultra-Bewegung. Die Torino-Fans waren die ersten, die organisierte Auswärtsfahren durchführten. Und 1970 stemmten sie die erste Choreografie einer Fankurve.

Traditionell gelten die Torino-Fans als politisch links. Lokalrivale Juventus hat zwar seit Jahrzehnten viele Fiat-Arbeiter und damit auch Gewerkschaftsmitglieder unter seinen Anhängern, die Juve-Fanklubs in der Stadt sind aber überwiegend rechtsgerichtet.