Jamal Musiala (l.) und Florian Wirtz während des Trainings der deutschen Nationalmannschaft

Entwicklung in der Bundesliga Deutsche Talente machen sich rar bei den Spitzenklubs

Stand: 03.08.2021 14:47 Uhr

Der Mangel an deutschen Talenten schlägt bei den Top sechs in der Bundesliga voll durch. Die Kader werden internationaler, weil der eigene Nachwuchs nicht genug Qualität bietet. Teams wie RB Leipzig, Bayer Leverkusen oder Eintracht Frankfurt könnten kommende Saison eine Startelf ohne einen einzigen Deutschen aufbieten.

Hansi Flick sah bestens erholt aus, als der neue Bundestrainer einen symbolträchtigen Rundgang auf der größten Baustelle des deutschen Fußballs unternahm. Mit Helm und Warnweste besichtigte der vom FC Bayern abgeworbene Fußballlehrer den DFB-Campus, auf dem nicht nur die Verwaltung, sondern auch die Akademie untergebracht sein wird - und künftig die Nationalmannschaft vor allen Länderspielen ihr Zuhause haben wird.

In einem knapp achtminütigen DFB-Video gab Flick am Wochenende erste Einschätzungen zu den verschiedenen Themenfeldern ab; der Bereich "Jugend" war dabei vergleichsweise schnell abgehandelt. "Wir haben das eine oder andere Talent. Ob das jetzt Jamal Musiala ist, der das erste Mal dabei war oder Florian Wirtz, der ein sehr junger, talentierter Spieler ist. Wir schauen uns an, wie sie sich machen, weiterentwickeln."

Musiala und Wirtz sind beide erst 18

Abgesehen von den beiden 18-Jährigen, von denen Musiala bekanntlich über Kurzeinsätze bei der unter Flick-Vorgänger Joachim Löw vermurksten Europameisterschaft nicht hinaus kam, fielen keine weiteren Namen, und vorsichtshalber leitete der neue Frontmann der A-Nationalmannschaft schon mal dahingehend über, dass er nicht zwischen Alt und Jung unterscheiden wolle - sondern nur die Qualität des einzelnen Spielers zähle. Und die reicht bei den jungen Spielern bis auf ganz, ganz wenige Ausnahmen längst nicht mehr für die Weltspitze aus.

Der für die Nationalmannschaften verantwortliche DFB-Direktor Oliver Bierhoff, Flicks Vorgesetzter, hat das mit Blick auf die EM-Endrunde deutlich angesprochen, denn die Defizite sind offenkundig: "Wir hatten zwei U21-Spieler dabei, die Niederländer aber sieben und die Engländer acht. Wenn man das fünf Jahre weiter denkt, kann einem ein bisschen angst und bange werden", sagte Bierhoff. "Wir müssen wieder stärker die Individualität, die Kreativität und die Spontaneität im Spiel fördern."

Lukas Nmecha unternimmt neuen Anlauf

Gleichwohl ist längst ein Teufelskreis in Gang gekommen. Gerade die Top sechs der Bundesliga haben keine Zeit für Langzeitentwicklungen, sondern müssen sich die aktuelle Lage anschauen, um international konkurrenzfähig zu bleiben. Und da sind die meisten deutschen U21-Europameister nicht gut genug, um von den Europapokalteilnehmern verpflichtet zu werden.

Ein einziger hat bei den Spitzenteams eine Anstellung bekommen: Lukas Nmecha kehrte zum VfL Wolfsburg zurück, um mit 22 Jahren einen erneuten Anlauf zu nehmen, sich bei den Niedersachsen durchzusetzen. Der Angreifer kam jetzt von RSC Anderlecht, hatte auch für den FC Middlesbrough gespielt, nachdem er sich vor zwei Jahren bei den "Wölfen" noch nicht durchbeißen konnte und mit sechs Bundesliga-Einsätzen begnügen musste. Der gebürtige Hamburger, in der Jugend durchgängig bei Manchester City auf höchstem Niveau ausgebildet, bringt Durchsetzungsvermögen und Instinkt mit, aber mit Wout Weghorst (53 Tore in 100 Bundesligaspielen) steht ein Mittelstürmer von internationalem Format vor ihm.

Niklas Dorsch geht nun einen Umweg

So mancher Kollege von der erfolgreichen U21 geht wie der zum FC Augsburg gewechselte - und zuvor beim FC Bayern ausgebildete - Mittelfeld-Giftzwerg Niklas Dorsch lieber noch den Umweg über einen kleineren Verein. Auch an ihm sollen einige deutsche Topvereine Interesse gezeigt haben, die sich in der Regel aber viel lieber im Ausland bedienen. Wobei die Top sechs ansonsten bei jungen, entwicklungsfähigen Kräften fast ausnahmslos ins Ausland schauen.

Der FC Bayern verstärkte sich mit dem Franzosen Dayot Upamecano (22 Jahre) und dem Engländer Omar Richards (22), RB Leipzig gab das meiste Geld für den Portugiesen André Silva (25), den Kroaten Josko Gvardiol (19) und den Spanier Angelino (24) aus und lotste ablösefrei noch das niederländische Toptalent Brian Brobbey (19) in die Messestadt. Bester Einkauf der jüngeren Vergangenheit war fraglos der Spanier Dani Olmo (23), der sich bei der EM als Stütze der spanischen Nationalelf zeigte.

Dortmund denkt international

Borussia Dortmund ist seit Jahren bei der Suche nach den Stars von morgen auf dem internationalen Markt aktiv, für den nach England zurückgekehrten Jadon Sancho spielt nun der Niederländer Donyell Malen (22) den großen Hoffnungsträger, der mit seiner Geschwindigkeit und Ballbehandlung zur Attraktion werden kann. Als weiterer Perspektivspieler kam der erst 17-jährige Franzose Soumaila Coulibaly.

Nicht volljährige Akteure hat auch Eintracht Frankfurt gelockt, um ein neues Kapitel bei der Talentförderung einzuleiten. Der 17-jährige Fabio Blanco wäre noch für die U19 spielberechtigt, ist aber ausdrücklich bei den Profis eingeplant. Der Jugendspieler des FC Valencia wurde laut Kaderplaner Ben Manga von zahlreichen Topklubs Europa gejagt. Der vielsprachige Direktor Profifußball hat auch Blancos Landsleute Enrique Herrero Garcia (16) und Ignacio "Nacho" Ferri Julia (16) geholt, die über die U19 an die Profis herangeführt werden sollen. Dagegen ist der türkische Torjägernachwuchs Ali Akman (19) fast schon alter Hase.

Frankfurt findet keine heimischen Spieler mehr

Die Eintracht will damit Werte für die Zukunft schaffen - mit deutschen Spielern, erst recht nicht mehr aus der Region wie einst Sebastian Rode oder Sebastian Jung, funktioniert das Modell zum Leidwesen der Verantwortlichen nicht. Aufsichtsratschef Philip Holzer sagte im Interview der "Frankfurter Rundschau": "Es muss unser Modell sein, für viele unbekannte, von unseren Scouts entdeckte Talente zu holen, sie gut auszubilden und dann möglicherweise zu verkaufen. Transfererlöse sind und bleiben ein wesentlicher Teil unserer Einnahme-Säule."

Hätte er einen Zauberstab, dann würde aber sein Fokus auf dem Leistungszentrum liegen. Sein Wunsch: "Dass wir endlich ein paar Nachwuchskräfte nach oben bringen. Das wäre auch aus Sicht der Bindung an die Rhein-Main-Region wichtig." Aber die Realität ist eine andere, der sich auch die beiden fürs internationale Geschäft qualifizierten Werksklubs fügen: Bayer Leverkusen könnte nach dem Abschied wohl häufiger eine Startelf aufstellen, in der außer Wirtz und Nadiem Amiri kein deutscher Spieler mehr auftaucht.

Der VfL Wolfsburg hat fast 20 Millionen für die Belgier Sebastiaan Bornauw (22) und Aster Vranckx (18) ausgegeben. In der Bundesliga werden also in nächster Zeit vorrangig Talente aus England, Frankreich und Spanien, den Niederlande und Belgien bei den Europapokalteilnehmern den nächsten Karriereschritt unternehmen - und letztlich werden vielleicht sogar deren Nationalmannschaften profitieren. Die Aufgabe eines Hansi Flick macht das mittel- und langfristig nicht leichter. Zumal weder Musiala noch Wirtz und erst recht nicht Nmecha die Garantie bieten, dass sie schnell zu Leistungsträgern der A-Nationalmannschaft reifen.