Relativer Alterseffekt im Jugendfußball Das Geburtsdatum als Karrieresprungbrett - Daten und Lösungen

Stand: 01.09.2021 15:37 Uhr

In der Bundesliga und den U-Mannschaften des DFB spielen nur wenige Fußballer, die zwischen August und Dezember geboren wurden. Thomas Broich und ein renommierter Wissenschaftler kritisieren das System - und nennen Lösungen.

Nach dem Wunsch des DFB soll es mal eine Ära werden, zunächst ist es jedoch nur ein Qualifikationsspiel zur WM 2022. Hansi Flick gibt am Donnerstag (02.09.2021) seinen Einstand als Bundestrainer.

Sein Kader umfasst 26 Spieler, und dieser Kader unterstreicht ein Phänomen, das seit langem bekannt ist und seit langem angegangen werden sollte: den relativen Alterseffekt (RAE), mit dem sich die Sportschau bereits intensiv beschäftigte.

Exoten aus dem Dezember

Hervorgerufen wird der RAE durch eine Stichtagsregelung. Seit 1997 gilt der 1. Januar als Stichtag für einen Fußballerjahrgang. Ein Spieler, der Anfang Januar geboren wurde. ist also ein knappes Jahr älter als einer, der im Dezember Geburtstag hat. Dennoch spielen beide zum Beispiel in der U15.

Schlotterbeck allein auf weiter Flur

Eine Datenanalyse zeigt, dass nur sechs von derzeit 167* Auswahlspielern des DFB im Dezember geboren wurden, das entspricht 3,6 Prozent. Der Dezember macht allerdings 8,5 Prozent eines Jahres aus, und es gibt keinen Grund, warum im Februar geborene Kinder bessere Fußballer sein sollten als die, die im Dezember ein Jahr älter werden.

Ein Beispiel: Nico Schlotterbeck, im Dezember geboren und derzeit im Kader von Hansi Flick, stehen mit Joshua Kimmich, Leon Goretzka und Jamal Musiala drei im Februar geborene A-Nationalspieler gegenüber. Dazu kommen drei Januar- und sogar fünf Märzkinder.

Im Zeitraum von Januar bis zum geburtenstärksten Monat Juli sind 80,8 Prozent der aktuellen A-Nationalspieler geboren worden, obwohl am 31. Juli erst 58,1 Prozent eines Jahres abgelaufen sind.

Ähnlich hoch sind die Unterschiede in anderen DFB-Mannschaften: In der U16 sind im ersten Halbjahr 85 Prozent der Spieler geboren, im zweiten Halbjahr nur 15 Prozent. In der U17 (83,3 vs. 16,7), der U19 (84 vs 16) und der U20 (77,8 vs 22,2) sind die Unterschiede ebenfalls enorm.

Forscher sieht Ungerechtigkeit

Professor Martin Lames von der Technischen Universität München forscht seit vielen Jahren zum relativen Alterseffekt. Er sieht als Folge, dass Vereine und Verbände ihr "Talentreservoir beschneiden", wenn sie dem RAE nicht entgegenwirken. Der Wissenschaftler sieht aber auch eine "ethische Komponente".

Der RAE verursache eine Ungerechtigkeit. In einer Fortbildung des DFB führte er aus: "Es wurden Sportler gefördert, die dies nicht verdient hatten." Im Umkehrschluss: "Es wurden Sportler nicht gefördert, die dies verdient gehabt hätten!"

Problem "jahrelang ignoriert"

Lames sagte, dass der DFB das Problem des RAE "jahrelang ignoriert oder mit einem Augenzwinkern abgetan" habe, weil es aufgrund der Masse an Nachwuchsspielern immer genügend Talente in die Spitze geschafft hätten. "Inzwischen stelle ich aber einen Wandel fest. Das muss dem Verband zugute gehalten werden", so der Wissenschaftler.

Fußballexperte Thomas Broich macht einen "systemischen Fehler" aus, der den RAE fördere. Das Gefälle bei den Gehältern der Jugendtrainer in den Profivereinen sei einfach zu groß. Um im Bereich der U19 viel zu verdienen, müssten Trainer der jüngeren Mannschaften Erfolge nachweisen. Es sei daher normal, dass sie Spieler einsetzten, die aktuell die Wahrscheinlichkeit eines Sieges erhöhten.

"In fast allen Föderstrukturen gibt es derzeit einen RAE - in LZ (Leistungszentren, d. Red.) und Auswahlmannschaften besonders stark", schreibt der DFB in seinem Konzept "Projekt Zukunft", das sich nun dem Problem widmen möchte, unter anderem mit weniger Wettbewerbsdruck unterhalb der U19 - um es Trainern einfacher zu machen, die Ausbildung und Förderung in den Vordergrund zu stellen und nicht die Ergebnisse.

Wie gut wird ein Talent?

Thomas Broich benennt das Problem, das trotzdem jeder Scout und Trainer haben wird. Ein Urteil zum derzeitigen Leistungsstand ist wesentlich einfacher als eine Prognose, wie gut ein Fußballer nach abgeschlossener Entwicklung sein kann.

Um das Problem abzumildern, könnte ein rollierender Stichtag eingeführt werden. Dann gehörte ein Dezemberkind beim Stichtag 1. Oktober zum ersten Quartal, später vielleicht bei Stichtag 1. April noch zum dritten. Professor Lames nennt das "sehr vielversprechend". Besser sei aber das Bio-Banding. Mit dieser Methode wird das biologische Alters eines Kindes oder Teenagers festgestellt.

Bio-Banding als mögliche Lösung

Auf diesem Feld gebe es viel Forschungsbedarf und Verbesserungspotenzial, so Lames. Aber mit der Methode, in der Körpergewicht, Körpergröße und Sitzhöhe einen Indexwert ergeben, sei durchaus schon seriös zu arbeiten. Abweichungen von bis zu vier Jahren vom tatsächlichen Alter seien so festzstellen. Mannschaften, in denen etwa Zwölf- und 16-Jährige zusammen spielten, seien denkbar und zuweilen auch ratsam.

Auch Thomas Broich hält es für sinnvoll, Bio-Banding stärker zu verfolgen und einen rollierenden Stichtag im Bereich des DFB einzuführen. Der ehemalige Bundesligaprofi, in der vergangenen Saison Trainer der U15 bei Eintracht Frankfurt, hat weitere Ansätze.

Deutliche Unterschiede in Bundesligakadern

Bei der Analyse der Bundesligakader** stechen Eintracht Frankfurt und der FC Augsburg hervor. Bei ihnen überwiegen die Frühgeborenen nur geringfügig (Frankfurt: 55,2 Prozent) oder gar nicht (Augsburg: 50 Prozent).

Im 29 Spieler starken Kader der TSG Hoffenheim stehen fast nur Profis, die in den ersten Monaten eines Jahres geboren wurden - 2,8,2 Prozent. Auch andere Teams haben deutlich mehr Spieler, die zwischen Januar und Juli geboren sind: 1. FC Köln (72,4 Prozent), Hertha BSC (73,3 Prozent), Greuther Fürth (72,4 Prozent), Borussia Dortmund und VfL Bochum (jeweils 68,8 Prozent).

Eine signifikante Abweichung ist festzustellen, wenn bei den Bundesligaspielern zwischen "spielberechtigt für den DFB" und "nicht spielberechtigt für den DFB" unterschieden wird. Bei der ersten Gruppe liegt der Anteil der von Januar bis Juli Geborenen bei mehr als 70 Prozent, bei der anderen nur bei gut 62 Prozent. Wissenschaftler Lames sagt, daraus lasse sich aber nicht schließen, dass andere Verbände besser und gerechter scouten. "Der RAE ist ein internationales Phänomen", so der Forscher. Seine Erklärung: "Bei den jüngeren Spielern in den Kadern tritt der relative Alterseffekt deutlich häufiger auf. Spieler, die es dann schaffen, lange im Profifußball zu bleiben, gleichen das ein bisschen aus."

"Spielberechtigt DFB" und "nicht spielberechtigt DFB"
Spielberechtigt DFB 1. Quartal (in %) 2. Quartal (in %) 3. Quartal (in %) 4. Quartal (in %) Januar - Juli (in %)
233 Bundesligaprofis 35,2 24 26,6 14,2 70,4
nicht spielberechtigt DFB
286 Bundesligaprofis 32,5 24,1 20,6 22,7 62,2

Spitzenklasse setzt sich dann irgendwann doch durch. Beste Beispiele: Der spät im Oktober geborene Ilkay Gündogan kehrte nach nur einem Jahr in der Jugend beim FC Schalke 04 zu seinem Heimatverein aus einem Gelsenkirchener Vorort zurück. Das Talent - besser: das Potenzial - des kleinen und schmächtigen Gündogan wurde damals selbst in einer der anerkannt besten Nachwuchsabteilungen nicht erkannt. Mats Hummels gehörte viele Jahre in den Jugendmannschaften des FC Bayern nicht zur ersten Wahl. Er ist der einzige deutsche Weltmeister von 2014, der im Dezember geboren wurde.

* Der DFB führt derzeit in seinen Kadern 170 Spieler von A-Nationalmannschaft bis U16 auf. Angaben zu den Geburtstagen von drei Spielern der U16 wurden von den Vereinen mit Verweis auf Datenschutzgründe abgelehnt.

**Stand der Datenerhebung ist Montag (30.08.2021), 12 Uhr, also vor Ende des Transferfensters.