Public Viewing

Geschichte des Public Viewings Geschichte des Public Viewings in Berlin: Von der "Fernsehgroßbildstelle" zur Fanmeile

Stand: 06.06.2024 07:55 Uhr

Berlin gilt seit 2006 als Public-Viewing-Hauptstadt und wartet zur Europameisterschaft wieder mit einer großen Fanmeile auf. Auch die Historie des öffentlichen Fußballfernsehguckens ist eng mit der Hauptstadt verbunden. Von Gunnar Leue

So ging Fußballgucken bei der Weltmeisterschaft 2002: Berliner Fußballfans, die es sich zeitlich leisten konnten, schlurften morgens in ausgewählte Kneipen, um Spiele zu verfolgen. Sieben Stunden Zeitverschiebung zu den Ausrichterländern Japan und Südkorea ließen die ersten Partien schließlich schon um 8:30 Uhr starten.
 
So auch im "Bassy"-Club direkt am Pfefferberg, wo den Frühkommern eine völlig neue Form gemeinschaftlichen Fußballguckens geboten wurde. Wer die Fußballkneipe eher zufällig gewählt hatte, wunderte sich über die Worte, mit denen zwei Reporter das Spielgeschehen kommentierten. Ziemlich freche, für Fernsehreporter eher unübliche Sprüche drangen da ans Ohr.

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Gemeinschaftsgucken bei WM 2002

Des Rätsels Lösung: Erstmals gab es die Möglichkeit, beim Bezahlsender Premiere die Tonspur des Kommentators abzustellen. Stattdessen war im "Bassy" das anarchistische Alternativsprech der Live-Kommentatoren Sven-Ole Knuth und Waldefried Forkefeld (ein Pseudonym, das einem gleichnamigen DDR-Sportreporter huldigte) zu hören.
 
Mit einer Art Reporter-Freestyle tobte das Duo sich im selbstbenannten "WM Studio Mitte" semantisch aus, weil es keinen Bock mehr hatte auf die langweilige Nüchternheit der Fußballübertragungen früherer Zeit.
 
Neben Fake-Namen und -Kommentaren erreichte auch das Gemeinschaftsgucken bei der WM 2002 eine neue Qualität, ein neues Publikum. Während andere Werktätige zur Arbeit mussten, tummelte sich in den Fußballkneipen Bauarbeiter, Arbeitslose, Studenten und Soloselbständige. Das war die personelle Melange von Public Viewing in Berlin anno 2002, wobei der Begriff erst vier Jahre später groß Karriere machte.

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"Fanmeile" Wort des Jahres 2006

Und Berlin spielte dabei eine bedeutende Rolle, bedingt durch die Assoziation mit der Fanmeile. Die schaffte es 2006 zum "Wort des Jahres", weil es genau das ausdrückte, was das "WM-Sommermärchen" ausmachte: Kollektiv fiebern, feiern, jubeln und enttäuscht sein. Alles umsonst und draußen. Ein bisschen wie ein Woodstock für Fußballfans. Der große Unterschied zu 2002: Aus Indie-Public-Viewing à la WM-Studio Mitte ward Mainstream-Public-Viewing geworden. Quasi ein mega Festival-Public-Viewing.
 
"Die WM 2006 war so etwas wie die Geburtsstunde des Public Viewing in Deutschland", sagt Robert Gugutzer von der Goethe-Universität Frankfurt/Main. Insbesondere die Fanmeilen hätten das Bild geprägt, so der Sportsoziologe. Gleichwohl hätte es das öffentliche Massenfußballgucken schon bei der WM 2002 in Südkorea gegeben - in Japan hatte die Regierung Public Viewings untersagt.
 
"Ab 2006 hat sich dann die Fifa das Public Viewing unter den Nagel gerissen und die Vermarktung der großen Fanmeilen übernommen", sagt Gugutzer. Die Idee zu den Fanfesten mit großflächigen Übertragungen kam vom WM-Organisationskomitee und wurde gemeinsam mit der Fifa und den zwölf deutschen WM-Städten umgesetzt. Am spektakulärsten zweifelsfrei auf der Berliner Straße des 17. Juni.

"Fernsehgroßbildstellen" bei Olympischen Spielen 1936

Aber auch die historischen Anfänge des öffentlichen Fußballfernsehguckens führen nach Berlin. Bei den Olympischen Spielen 1936, einer Propagandainszenierung in der Zeit des Nationalsozialismus, gab es in sogenannten Fernsehstuben erstmals Live-Übertragungen von den Wettkämpfen im öffentlichen Raum. Ein Jahr zuvor hatte der weltweit erste reguläre Fernsehsender "Paul Nipkow" sein - aber nur in Berlin empfangbares - Programm aufgenommen.
 
Weil aber Fernsehgeräte teuer und Techniker rar waren, wurden bis 1936 in Berlin 27 "Fernsehgroßbildstellen" eingerichtet, in denen vor Projektor und Leinwand bis zu 300 Personen Platz fanden. Die Olympischen Spiele waren so das erste große Sportereignis, bei dem Wettkämpfe aus dem Olympiastadion live vom Fernsehen übertragen wurden. Bis zu 160.000 Menschen sollen in den Fernsehstuben das täglich achtstündige Sonderprogramm verfolgt haben.

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Erleben statt mitfiebern

88 Jahre später haben die Menschen in Berlin viele Möglichkeiten, Sportwettkämpfe wie Fußballspiele auch außerhalb des Stadions zu verfolgen. Im heimischen Wohnzimmer, am Stand via Smartphone, in Kneipen oder eben auf der Fanmeile am Brandenburger Tor - Partyfeeling inklusive. "Sehr viele Menschen gehen zum Fußballschauen, weil sie etwas erleben wollen, und gar nicht mal so sehr, weil sie große Fußballfans sind", sagt Gugutzer. Public-Viewing-Events sollen die Menschen unterhalten, sagt er, seien so zugleich eine moderne Form des Fußballkonsums.
 
Dass Events eine angemessene Kulisse brauchen, wussten auch die Organisatoren der WM 1990 in Italien, als sie am Vorabend des Finalspiels "Die drei Tenöre" in den Römer Caracalla-Thermen zur ersten großen Musikshow rund um ein Fußballturnier auftreten ließen. Eine der hierzulande eindrucksvollsten Kulissen bietet das Berliner Brandenburger Tor. Auch deshalb wird das Phänomen Fußball-Public-Viewing in Deutschland stark mit der Hauptstadt assoziiert.
 
"Feiernde Menschen vor dem Brandenburger Tor, das sieht einfach toll aus. Dort war die größte Fanmeile des Landes und daraus entstanden beeindruckende Fernsehbilder, die bis heute nachwirken", so Gugutzer. Längst sei Public Viewing allerdings ein internationales Phänomen und die Stimmung in südeuropäischen und südamerikanischen Ländern manchmal noch eindrucksvoller.

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Das "erste Mal" nicht wiederholbar

Was es in anderen Ländern nie gab, war ein großes "WM-Wohnzimmer" in einem Stadion. Anders in Köpenick: Zur WM 2014 brachten Fans dort ihre Sofas mit ins Stadion an der Alten Försterei. Die Bilder gingen um die Welt. Ohnehin war Berlin oft ein guter Standort für ungewöhnliche Formen von Public Viewing. Zur EM 2008 erfand Stephan Graf von Bothmer kollektives Fußballgucken mit Orgelbegleitung. Der Wahlberliner – mit familiären Spuren zu Richard Strauss – spielte seine Kirchenorgel erstmals zu Fußballübertragungen, statt zu Stummfilmen. Inzwischen hat sich die kleine Fußballshow unterm Kirchendach etabliert: Fernsehbild an, Fernsehton aus und voll in die Tasten!
 
Das Publikum – mit DFB-Trikot und Bierbecher dem Fanmeilentum nicht gänzlich abgeneigt – zeigt sich unabhängig vom Spielgeschehen konstant begeistert. Auch bei dieser EM wird von Bothmer wieder "Public Viewing ohne nervige Moderatoren, dafür mit dramatischer Live-Filmmusik" präsentieren, in der Berliner Emmaus-Kirche. Aus einem schlechten Spiel kann er so immerhin ein unterhaltsames machen. Allemal besser als auf einer Fanmeile eine Niederlage der Unsrigen zu sehen.
 
Der Reiz des Fußballfernsehguckens in der großen Masse sei eben sehr mit Erfolgserwartungen verknüpft, sagt Gugutzer, und Public Viewing funktioniere vor allem dann, wenn ein großes Turnier im eigenen Land stattfindet. "Daher die Hoffnung, dass es dieses Jahr so wird wie 2006. Die EM wird unweigerlich an der damaligen WM gemessen werden und kann dabei eigentlich nur verlieren", sagt er. Schließlich sei das "erste Mal" auch in diesem Fall einmalig und nicht wiederholbar.

Sendung: rbb24 Inforadio, 05.06.2024, 16:15 Uhr