
Studie des Berliner Fußballverbands Kulturwissenschaftler: "Der Fußball war ein Unterstützer des NS-Staats"
Der Berliner Fußball-Verband hat in einer Studie seine Aktivitäten in der NS-Zeit untersuchen lassen. Projektleiter Dr. Thomas Schneider spricht im Interview über die gesellschaftliche Funktion und damalige Rolle des Fußballs sowie die Lehren für heute.
Am 8. Mai 2025 jährt sich das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa zum 80. Mal. In Berlin ist dieser Tag zum Feiertag erklärt worden.
Im Fußball ist die Aufarbeitung der eigenen Geschichte in der NS-Zeit lange Zeit auf der Strecke geblieben. Der Berliner Fußball-Verband (BFV) hat vor drei Jahren eine Studie in Auftrag gegeben, um die eigene Historie in der Zeit zwischen 1933 und 1945 näher zu beleuchten. Kulturwissenschaftler Thomas Schneider war zusammen mit Historiker Daniel Küchenmeister Projektleiter der Studie "Geschichte des Berliner Fußballs in der NS-Zeit." Die komplette Studie wird im Herbst 2025 vorgestellt. Im Interview mit rbb|24 spricht Kulturwissenschaftler Schneider über die Rolle des Fußballs und seiner Verbände in der NS-Zeit.
rbb24: Herr Schneider, der BFV ist der bisher einzige Landes- und Regionalfußballverband, der durch eine beauftragte Studie derartig detailliert in seine Aktivitäten während der NS-Zeit blickt. Glauben Sie, es gibt einen mangelnden Aufklärungswillen im Fußball oder woran könnte das liegen?
Thomas Schneider: Seitdem der DFB vor 20 Jahren die erste Studie zu diesem Thema in Auftrag gegeben hat, ist viel passiert. Die Debatte hält seitdem an. Der Berliner Fußball-Verband befasst sich seit über zehn Jahren intensiv mit der eigenen Geschichte und hat festgestellt, dass das Wissen zu den eigenen Aktivitäten während der NS-Zeit lückenhaft ist. Vordergründig wusste man, dass sich der Verband damals aufgelöst hatte und in den NS-Strukturen im sogenannten "Gau III" aufgegangen ist. Aber so einfach ist es nicht. So entstanden viele Fragen beim Verband, die vor drei Jahren anlässlich des 125-jährigen Jubiläums des BFV zu dieser Studie führten.

Weshalb lohnt es sich so sehr, im Rahmen der NS-Aufarbeitung dediziert auch auf den Sport und Fußball in Deutschland zu schauen?
Die Weimarer Republik war eine Zeit, in der sich der Fußball zum Massensport entwickelte und gewisse Relevanz in der Gesellschaft erlangte. Viele Menschen gingen zum Fußball oder spielten aktiv. Daraus ergab sich für unsere Forschung die Fragen: In welcher Weise wurde der Fußball von den Nazis instrumentalisiert? Inwieweit wird er gebraucht, um das NS-Regime zu stützen? Indem das Führerprinzip auf Vereinsebene durchgesetzt und der Arier-Paragraph eingeführt wird; bestimmte Bevölkerungsgruppen – zuallererst jüdische Mitbürger – ausgegrenzt werden; die Ideologie durchgesetzt wird.
Es ist ja nicht so, dass – anders als oft wahrgenommen – 1933 plötzlich die Nazis da waren. Natürlich bekam Hitler damals die Macht übertragen und erließ gleich erste einleitende Gesetze, aber es war nicht sofort der bekannte, auf allen Ebenen durchregierende NS-Staat. Bis sich all das aber gesellschaftlich durchgesetzt hatte, brauchte es eine gewisse Zeit – und Unterstützer. Und genau diese Rolle muss man dem Sport zuordnen.
Sie konnten in Ihrer Studie nachweisen, dass der Verband Brandenburgischer Ballspielvereine (VBB) – der Vorgänger des BFV - sich in der NS-Zeit faktisch auflöste und bereitwillig dem Regime von Adolf Hitler unterwarf. Wie geschah das und welche Wirkung hatte das auf die Zivilgesellschaft?
Es gab im Sommer 1933 eine Versammlung des VBB, in der er innerhalb von knapp 20 Minuten entschied, sich aufzulösen und fortan den Sportstrukturen des NS-Staats unterzuordnen. Von Verweigerung oder gar Widerstand kann man hier überhaupt nicht reden. Das hatte natürlich eine Signalwirkung auf die Vereine im Verband. Es gab daneben noch die Arbeitervereine, die verboten wurden und sich teilweise umgewandelt haben, während einzelne Sportler Widerstand leisteten. Einige von ihnen wurden hingerichtet oder mundtot gemacht. Es hatte den erhoffen Effekt, die Nazis konnten den Sport auf Linie bringen und damit die gesellschaftliche Akzeptanz des Regimes erhöhen. Der Fußball hat so zur Stützung des Systems beigetragen. Die Personen im Verband bzw. dann im Gau III waren aber nur in der Spitze stramme, überzeugte Nazis. Die Leute in der zweiten Reihe waren es nicht, hielten aber den Spielbetrieb am Laufen und den Verband sozusagen am Leben.

Welche Menschen durften nach dem Wandel im Verband plötzlich nicht mehr Fußball spielen?
Das waren entsprechend der NS-Ideologie zuallererst jüdische Mitbürger. Entweder sie traten freiwillig aus oder ihnen wurde durch konkrete Satzungsänderungen in den einzelnen Vereinen untersagt, weiter Mitglied zu sein und am Spielbetrieb teilzunehmen. So waren sie gezwungen, eigene Strukturen aufzubauen. Es gab auch schon vor 1933 jüdische Vereine in Berlin, die Mehrzahl kickte aber bei bürgerlichen Vereinen. So kam es zwischen 1933 und 1938 zu einer kurzen Scheinblüte des jüdischen Fußballs in Berlin. Er bauten einen recht großen und erfolgreichen Spielbetrieb auf – unter den Restriktionen des NS-Regimes. Es war auch ein Ziel der Studie, jenen Spielbetrieb nachzuzeichnen und diese Menschen so in die Erinnerung des Verbands zu holen. Es ist zudem bemerkenswert, wie schnell nach 1945 wieder ein Verein von jüdischen Mitbürgern gegründet wurde und dieser am Spielbetrieb teilnahm.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde auch der Sport in Deutschland neu organisiert. Dabei übernahmen zahlreiche Funktionäre des früheren VBB, die dem NS-Regime noch gedient hatten, erneut wichtige Ämter. Wie passt das zu dem Prozess, den man gemeinhin als "Entnazifizierung" kennt?
Natürlich nicht, aber auch hier muss man genauer gucken. Ohne es an einer Person festmachen zu wollen: wir sind auf einen Funktionär gestoßen, der zwischen 1933 und 1945 in seiner Position für "Gau III" das Regime definitiv gestützt hat. Nach heutigen Maßstäben würden wir von einem Nazi sprechen. Er ist nach 1945 – der Verband gründete sich erst 1949 neu – von den Alliierten dazu berufen worden, die Sektion Fußball zu leiten und den zunächst provisorischen Spielbetriebs aufzubauen. Er hatte dann noch viele Jahre eine Funktion im Präsidium. Er muss also als anerkannter Fachmann gegolten und sich hohe Verdienste erworben haben. Und er war einer der treibenden Kräfte dahinter, einen von jüdischen Rückkehrern gegründeten Verein namens "Hakoah" wieder in den Berliner Spielbetrieb einzugliedern. Das verleiht dem Ganzen eine fast schon schillernde Ambivalenz.
Sie empfehlen dem Berliner Fußball-Verband, die Erkenntnisse der Studie dafür zu nutzen, der gegenwärtigen und zukünftigen Verbandsarbeit wichtige Impulse zu verpassen. Welche Ideen haben Sie hier konkret?
Wir empfehlen etwaige Schulungen für Verbandsmitglieder, Schiedsrichter und weitere Gruppen. Der Verband kann aber natürlich auch auf seine Vereine ausstrahlen, die ebenfalls ihre Vergangenheit beleuchten und Lücken in der eigenen Historie öffentlich wirksam füllen wollen. Zudem geht es darum, geeignete Partner zu suchen. In den heutigen Zeiten kommt es darauf an, sich mit denen zu vernetzen, die ebenfalls die Demokratie stärken und sich gegen Diskriminierung stellen wollen. Es braucht mehr Kooperationen zwischen Bildungsplattformen, Vereinen und Zivilgesellschaft.
Wir erleben einen Rechtsruck auf der Welt. Auch in Deutschland ist er zu beobachten. Die mittlerweile vom Verfassungsschutz als "gesichert rechtsextrem" eingestufte AfD steht laut aktuellen Wahlumfragen bei fast 25 Prozent. Erkennen Sie diese Entwicklungen auch im Fußball?
Ich habe als Kulturwissenschaftler natürlich eine andere Aufgabe, als das zu bewerten, aber auch mit einem oberflächlichen Blick lässt sich erkennen, dass es von rechts eine aufgeheizte und ausländerfeindliche Stimmung gibt. Das ist natürlich ein Problem. Seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober und den weiteren Folgen sind aber auch immer mehr antisemitische Vorfälle zu beobachten. Hier kann als Verband nur die Lösung sein, für Demokratie und Antidiskriminierung einzustehen. Das muss auf und neben dem Platz in konkrete Maßnahmen münden, die jenen Entwicklungen entgegenwirken.
Sind hier schon Parallelen zur damaligen Zeit sichtbar?
Unsere Studie kann vielleicht eine Aufmerksamkeit dafür schaffen, worauf es ankommt: dass man eben nicht wartet, bis es zu spät ist. Auch der Umbruch von 1933 hatte eine Vorgeschichte, auch damals sind gewisse Dinge ins Rutschen gekommen, die von vielen erst einmal für nicht so gefährlich gehalten wurden. Die historische Lehre ist: es kommt darauf an, so zeitig wie möglich eine Haltung zu entwickeln, sich dem entgegenzustellen und klarzumachen, dass kein Mitbürger Diskriminierung erfahren darf. Sich erst 1933 dem entgegenzustellen, war viel zu spät – das darf nie wieder passieren.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Marc Schwitzky, rbb|24 Sport.
Sendung: rbb Der Tag, 08.05.2025, 18 Uhr