Kathrin-Julia Hendrich (l.) aus Deutschland im Kopfballduell mit der engländerin Alessia Russo

1:2 gegen England nach Verlängerung Deutschland ohne Popp in Wembley gestoppt

Stand: 31.07.2022 21:31 Uhr

Rekord-Europameister Deutschland hat nach einem überragenden Turnier und einem dramatischen Endspiel ohne seine verletzte Kapitänin Alexandra Popp den neunten EM-Titel verpasst. Die "Lionesses" holten am Schauplatz des WM-Triumphs der Männer vor 56 Jahren erstmals wieder einen großen Titel für das Mutterland des Fußballs.

Von Ines Bellinger

Chloe Kelly war in der Verlängerung die Matchwinnerin zum 2:1 vor 87.192 entfesselten Fans in einer der Kultstätten des Weltfußballs. Während die Spielerinnen von Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg nach dem Schlusspfiff am Sonntagabend (31.07.2022) untröstlich auf den Rasen des Wembley-Stadions sanken, rastete das Team von Sarina Wiegman komplett aus.

Mit der Trainerin, die bereits ihr Heimatland Niederlande vor fünf Jahren zum EM-Sieg geführt hatte, feierten die "Lionesses" einen hochverdienten Triumph auf der Bühne, die für sie fast vier Wochen lang die Welt bedeutet hatte. "Sweet Caroline", der Welthit von Neil Diamond, hatte sie auf ihrer Reise begleitet durch einen Sommer, der sich für den englischen Fußball so gut wie schon lange nicht mehr angefühlt haben muss. "Es ist unglaublich", sagte Wiegman der BBC. "Wir haben es gelebt. Es war ein enges Spiel, aber wir haben es gewonnen."

Bundestrainerin gratuliert England und lobt Popp

Anders sah es auf der deutschen Seite aus. "Es tut jetzt einfach schweineweh, als Verlierer vom Platz zu gehen. Wir haben 120 Minuten alles gegeben und uns auch vom Rückstand nicht schocken lassen. Leider haben wir uns nicht belohnt", sagte Svenja Huth im Ersten. Voss-Tecklenburg bezeichnete das zweite Tor als "mega-unglücklich, aber Gratulation an England. Sie haben ein überragendes Turnier gespielt und dem Druck standgehalten." Kapitänin Popp lobte die Bundestrainerin dafür, dass sie wegen einer Verletzung kurz vor dem Anpfiff ihren Platz in der Startelf geräumt hatte. "So eine Entscheidung zu treffen, hat größten Respekt verdient." Trotz der Niederlage wird das deutsche Team am Montag (01.08.2022) auf dem Frankfurter Römer empfangen. Das Erste und sportschau.de übertragen ab 16.10 Uhr.

Oberdorf beste junge Spielerin des Turniers

Bei der Siegerehrung mussten die DFB-Frauen am EM-Pokal vorbeilaufen, einen "Trostpreis" bekamen sie aber doch. Lena Oberdorf wurde als beste junge Spielerin des Turniers ausgezeichnet. Die Engländerin Beth Mead holte sich neben der Torschützenkrone mit sechs Treffern und fünf Assists auch die Trophäe als beste Spielerin.

Popp & Co. begeisterten und inspirierten

Für Popp & Co. mag der finale K.o. von Wembley im ersten Moment tragisch erscheinen. Doch mit etwas Abstand dürften die DFB-Kapitänin und ihre Teamkolleginnen vor allem stolz sein auf das, was sie, ebenso wie die verdienten Siegerinnen, gegeben haben: Begeisterung und Inspiration, die sich aus der Hingabe für ihren Sport, gepaart mit selten zuvor erlebter fußballerischer Klasse speiste. Diese deutschen Fußballerinnen hatten überhaupt nur ein Problem - ein englisches Team, das auf diesen Moment des Wachküssens jahrzehntelang gewartet hat, das sich nach Jahren der Frustration von unsichtbaren Fesseln befreite und seine Mission beinahe rauschhaft zum ersehnten Ende führte.

Schocknachricht vorm Anpfiff: Popp spielt nicht

Noch bevor die britische Nationalhymne vor dem Finale das Wembley-Stadion elektrisierte, hielten deutsche Fans mit Transparenten dagegen: "Popp save the team". Doch daraus wurde nichts. Kurz bevor die Mannschaften einliefen, sprach sich herum, dass die Kapitänin passen muss. Popp hatte sich bereits am Samstag am linken Oberschenkel verletzt. Beim Warmmachen war die mit sechs Treffern beste deutsche Torschützin bei dieser EM noch auf dem Rasen und ihr Name auf der offiziellen Aufstellung vermerkt. Bei Spielbeginn stand als Mittelstürmerin aber Lea Schüller auf dem Platz, die frisch gekürte "Fußballerin des Jahres" in Deutschland. Huth übernahm die Kapitänsbinde.

England überlegen - Hegering mit Chance zur Führung

Die deutschen Spielerinnen wirkten etwas gehemmt von diesem für das Mannschaftsgefüge elementaren Verlust. Die Engländerinnen waren in der ersten Hälfte offensiv deutlich aktiver, ließen Chancen von Ellen White (3., 38.) und Lucy Bronze (19.) aber ungenutzt. Die DFB-Frauen kamen nicht in ihren gewohnten Spielfluss, hatten nach einer Ecke von Lina Magull durch Marina Hegering aber die Möglichkeit zur Führung (25.). Der Video-Schiedsrichter checkte zwar das Tohuwabohu im englischen Fünfmeterraum in dieser Szene, erkannte aber keinen Regelverstoß, obwohl Englands Kapitänin Leah Williamson der Ball deutlich an den ausgestreckten Arm gesprungen war.

Waßmuth belebt das Offensivspiel

In dem sehr intensiv geführten Duell mit schon drei Gelben Karten zur Pause hielt das deutsche Team auch ohne ihre Anführerin physisch dagegen. Sechserin Oberdorf und Abwehrchefin Hegering räumten im Zentrum ab, aber auch Sara Däbritz sprang in die Bresche.

Spielerisch neuen Schwung brachte die für Jule Brand eingewechselte Tabea Waßmuth. Die Wolfsburgerin lief nach einem Stellungsfehler von Millie Bright allein auf Torhüterin Mary Earps zu, schloss aber zu schwach ab (48.). Zwei Minuten später ließ sie den Ball klug zu Magull am Elfmeterpunkt passieren, doch die traf das Spielgerät nur mit der Pieke (50.). Schließlich kam Schüller nach Waßmuths Steilpass Richtung Earps einen Schritt zu spät (57.).

Toone macht das 1:0

Mitten in dieser Drangphase der Deutschen wechselte Wiegman seelenruhig zweimal - und drehte damit nicht zum ersten Mal in diesem Turnier entscheidend am Spielgeschehen. Aus der Bedrängnis spielte Keira Walsh einen Steilpass in die Schnittstelle der deutschen Abwehr auf die eingewechselte Ella Toone. Die Offensivspielerin von Manchester United sprintete Hegering und Kathrin Hendrich davon und überwand Frohms mit einem frechen Heber von der Strafraumgrenze (62.).

Magull trifft erst den Pfosten - und dann zum 1:1

War es das für Deutschland? Nein. Da war ja noch Magull. Die Offensivspielerin vom FC Bayern wurde von Oberdorf halbrechts im Strafraum freigespielt und nagelte den Ball zunächst an den Pfosten (66.). Etwas später nahm sie dann genauer Maß. Waßmuth legte - diesmal von rechts - für die Edeltechnikerin auf, die den Ball am Fünfmeterraum mit links direkt nahm und hoch zum 1:1 einschoss (79.). Es war ihr drittes Tor bei dieser EM.

Alles auf Anfang - aber wer hatte nach diesem kraftraubenden Spiel in der Verlängerung die besseren Reserven? Beiden Teams fehlte für die große Spielkunst nun sichtlich die Kraft, dafür ging es umso härter und mit grenzwertigen Fouls zur Sache.

Lina Magull jubelt über den Ausgleichstreffer

Drittes EM-Tor, aber kein Happy End: Lina Magull

Verlängerung: Kelly schießt England ins Glück

Die Entscheidung fiel schließlich nach einem Standard: Nach einer Ecke von Lauren Hemp, die die deutsche Abwehr nicht bereinigen konnte, stocherte die eingewechselte Kelly im Fallen den Ball über die Linie (110.). Die Spielerin von Manchester City riss sich ihr Trikot vom Leib, ihre Kolleginnen hatten Mühe sie einzufangen. England war am Ziel seiner Träume, der Fußball - endlich, endlich - wieder zu Hause angekommen.

England - Deutschland 2:1 n. V. (1:1, 0:0)

Tore: 1:0 Toone (62.), 1:1 Magull (79.), 2:1 Kelly (110.)
Zuschauer: 87.192 (ausverkauft)
Schiedsrichterin: Kataryna Monzul (Ukraine)

England: Earps - Bronze, Bright, Williamson, Daly (88. Greenwood) - Stanway (88. Scott), Walsh - Mead (64. Kelly), Kirby (56. Toone), Hemp (120. Parris) - White (56. Russo)

Deutschland: Frohms - Gwinn, Hendrich, Hegering (103. Doorsoun), Rauch - Magull (91. Dallmann), Oberdorf, Däbritz (73. Lohmann) - Huth, Schüller (67. Anyomi), Brand (46. Waßmuth)