Argentiniens Staatspräsident Jorge Rafael Videla hinter dem WM Pokal 1978

WM-Rückblick Argentinien 1978 - Propaganda für Folterknechte

Stand: 22.11.2022 21:12 Uhr

Die Fußball-WM von Katar ist nicht das erste höchst umstrittene und von Menschenrechtsverletzungen begleitete Fußball-Weltmeisterschaft. Ein Blick zurück auf Argentinien 1978.

Das kleine Büchlein ist nur 126 Seiten dick. Darauf zu sehen: Geschwungene Zaunstangen, die von Stacheldraht umgeben sind. In der Mitte prangt ein großer Fußball. Die Grafik ist am offiziellen Logo der WM 1978 angelehnt, das Buch beschäftigt sich mit den Titelkämpfen. "Fußball und Folter. Argentinien '78" - so heißt das schmale Buch. Erschienen im Januar 1978, wenige Monate vor der WM. Es war eines von wenigen kritischen Medienerzeugnissen zur damaligen Weltmeisterschaft.

Mehr als 30.000 Tote in Argentinien

Im Buch sind Fallberichte und politische Analysen zum Gastgeber der WM zu finden, zu Argentinien in Zeiten der Militärdiktatur. Fußballfans, die es wollten, konnten bereits deutlich vor der WM wissen: Im WM-Gastgeberland werden Menschenrechte und die Demokratie mit Füßen getreten. Heute ist bekannt: Tausende Menschen wurden während der Militärdiktatur verschleppt, viele tausend Menschen wurden gefoltert, rund 30.000 Menschen ermordet.

Argentiniens Staatspräsident Jorge Rafael Videla hinter dem WM Pokal 1978

Argentiniens Staatspräsident Jorge Rafael Videla hinter dem WM Pokal 1978

Katar nicht die erste "WM der Schande"

Die WM 2022 in Katar ist nicht die erste "WM der Schande". Auch andere Fußball-Großereignisse offenbarten, zu welch menschenverachtenden Allianzen Sportverbände, Sportler und Politik in der Lage sind. Ein Beispiel ist das Championat 1978 in Argentinien.

Menotti: "Kompletter Wahnsinn"

"Es war ein kompletter Wahnsinn", blickt Cesar Luis Menotti in der ARD-Dokumentation "Sieg unter Folter" auf die WM '78 zurück. Menotti war damals Trainer der WM-Gastgeber, Menotti war Kommunist und Regime-Kritiker, dennoch führte er die "Albiceleste" zum WM-Titel. "Wir haben damals unter der Diktatur gelitten, auch wenn wir damals die ganzen Grausamkeiten noch nicht begreifen konnten."

Verhaftungen, Folterungen, Tötungen

Zu den Grausamkeiten zählen Verhaftungen, Massen-Folterungen und -Tötungen. Teilweise wurden Regime-Kritiker bei lebendigem Leib aus Flugzeugen ins Meer vor Buenos Aires geworfen. Einer der schlimmsten Geheimgefängnisse befand sich in der Militärakademie "Esma", nur ein paar hundert Meter entfernt des Estadio Monumental, wo unter anderem das Finale stattfand.

Argentiniens Nationalspieler Daniel Passarella stemmt 1978 den WM-Pokal in die Höhe

Argentiniens Nationalspieler Daniel Passarella stemmt 1978 den WM-Pokal in die Höhe

"Das Volk vergisst ..."

"Man sagt, dass bei solchen Veranstaltungen das Volk vergisst, was sonst passiert und was den Menschen sonst wichtig ist", sagt Claudio Morresi, dessen Bruder durch das Regime getötet wurde, im Film von Sandra Schmidt, Robert Kempe und Jochen Leufgens. "Ich würde gern glauben, dass dem nicht so ist. Aber ich weiß es nicht. Die Diktatur wollte durch die WM ihr Bild in der ganzen Welt ändern."

FIFA unterstützt Junta

Und die Diktatur bekam dabei Unterstützung von ganz oben. Kurz nach der WM-Vergabe nach Argentinien durch die FIFA im Juli 1966 putschte sich das Militär erstmals an die Macht. Die FIFA schwieg. Zwei Jahre errichtete Jorge Rafael Videla ab 1976 eine ultranationalistische Militärjunta, die viele Tausend Opfer forderte.

Videla und seine Machtclique waren berüchtigt für das so genannte "Verschwindenlassen" von Regimekritikern. Statt demokratische Veränderungen und ein Ende der Repressionen zu fordern, gratulierte FIFA-Präsident Joao Havelange: "Die FIFA dankt der argentinischen Regierung und dem argentinischen Volk für die großartige Arbeit, die sie für die Weltmeisterschaft geleistet hat."

DFB-Präsident Neuberger: "Gehen andere Wege"

Auch die deutsche Politik und Sportpolitik hielt sich zurück und beschwichtigte. "Wir treten ein für die Menschenrechte in der ganzen Welt. Nur hängen wir unsere Auffassungen nicht so sehr zum Fenster hinaus", sagte der damalige DFB-Präsident Herrmann Neuberger: "Das nützt nichts und bringt niemanden weiter. Wir gehen andere Wege. Ruhig, gemessen, zurückhaltend."

DFB Präsident Hermann Neuberger bei der Generalversammlung des 1. FC Saarbrücken 1978

Früherer DFB Präsident Hermann Neuberger im Jahr 1978.

Der Nazi im DFB-Lager

Ganz aktiv war der DFB allerdings in einer anderen Sache: Wehrmachts-Oberst Hans-Ullrich Rudel, nach dem zweiten Weltkrieg eine Ikone der Neonazi-Szene, wurde im deutschen Trainingslager empfangen. In Argentinien, dem Land, in dem viele Nationalsozialisten nach dem zweiten Weltkrieg unbehelligt leben konnten. "Das ist keine Peinlichkeit. Wir sind Freunde", so Neuberger.

Kaltz: "Folter belastet mich nicht"

Und die Fußballer? Während in anderen europäischen Ländern wie Frankreich oder der Niederlande Boykott-Forderungen der WM laut wurden, gaben die deutschen Kicker Verstörendes von sich. Manfred Kaltz etwa sagte: "Belasten tut mich nicht, dass dort gefoltert wird. Ich habe andere Probleme."

Klaus Fischer äußerte sich ähnlich: "Die politischen Zustände in Argentinien interessieren mich überhaupt nicht. Ich konzentriere mich auf die Fußball-Weltmeisterschaft. Das Militär stört mich da auch nicht." Und Berti Vogts erklärte nach der Rückkehr: "Argentinien ist ein Land, in dem Ordnung herrscht. Ich habe keinen einzigen politischen Gefangenen gesehen."

Infantino in Havelange-Tradition

Vergleicht man die Äußerungen von Havelange und Neumann zu Argentinien 1978 mit den aktuellen Äußerungen von FIFA-Präsident Gianni Infantino, der Katar-Kritiker der "Heuchelei" bezichtigte, tun sich Parallelen auf. Die weltweit kritische Berichterstattung über die Menschenrechtssituation in Katar 2022, das Engagement einiger Fußballer und Fußball-Verbände für Vielfalt und gegen Diskriminierung am Beispiel der Regenbogenfarben und der Diskussion um die "One Love"-Binde zeigt aber auch, dass sich zwischen 1978 und 2022 auch Positives getan hat.

Und anders als 1978 ist die mediale Aufmerksamkeit ganz bei den Menschenrechtsverletzungen von Katar. Nicht nur ein 126-Seiten-Büchlein berichtet über die unhaltbaren Zustände im Gastgeberland einer Weltmeisterschaft.

"Warum konnte geschehen was geschah?"

In Argentinien allerdings bleibt die Erinnerung schmerzhaft. Auch mehr als 40 Jahre später. "Einer der sensibelsten Aspekte der ganzen Zeit ist die unbeantwortete Frage dessen, was wir über die Verschwundenen, über Folter und Morde wussten, was wir nicht wussten und was wir nicht wissen wollten", sagt Schriftsteller Martin Kohan: "Warum konnte geschehen was geschah? Und was haben wir in dieser Zeit getan?"