Sven mit Lebensgefährtin und Lichtenrade-Banner vor dem Stadion in Skopje/Nordmazedonien. (Bild: privat)

Interview mit Groundhopper Sven aus Lichtenrade "Es ist das Gesamtpaket bei Katar, was man als Fan nicht mehr mittragen kann"

Stand: 20.11.2022 12:21 Uhr

Immer dabei für Hertha und die Nationalmannschaft: Sven aus Berlin-Lichtenrade. Doch in Katar wird der Groundhopper und Allesfahrer nicht mit dabei sein. Warum er die WM boykottiert und welches verpasste Spiel ihn immer noch schmerzt.

Sie sind seit Kindesbeinen Hertha-Fan, begleiten aber auch seit vielen Jahren die Nationalmannschaft bei deren Auswärtsspielen. Wie hat das alles angefangen?
 
In der Jugend habe ich viel Fußball im Verein in Lichtenrade gespielt und dann war da natürlich erst mal so ein Grundinteresse vorhanden, dazu habe ich viel Bundesliga und Nationalmannschaft geguckt. Zu meinem ersten Hertha-Spiel bin ich als Siebenjähriger mit meinem Vater gegangen. Der war damals Schiedsrichterbeobachter. Das müsste 1986 oder 1987 gewesen sein, auf der Trabrennbahn Mariendorf gegen den Traber FC. Damals spielte Hertha noch in der Oberliga Berlin.
 
Mit 17 Jahren fing ich dann an, regelmäßiger zur Hertha zu gehen. 1994 ging es dann los mit den Auswärtsfahrten in der 2. Bundesliga. Mein erstes Spiel ging damals nach Chemnitz. Und irgendwann hatte ich die Motivation alles mitzufahren, seit 2000 dann auch mit meinem Lichtenrade-Banner.

Doha einen Monat vor dem Start der WM. / imago images/Laci Perenyi
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Und ab wann wurden sie zum "Allesfahrer", also zum Auswärts-Supporter der Nationalmannschaft?
 
Das kam relativ spät. 2006 hatte ich die WM im eigenen Land erlebt, unter anderem das Spiel im Olympiastadion gegen Argentinien. Das war so mein Erweckungserlebnis bezüglich der Nationalmannschaft. Zuvor bin ich immer schon mal mitgefahren, aber 2008 bin ich dann zu meiner ersten Europameisterschaft nach Österreich und in die Schweiz gefahren und seitdem habe ich fast kein Spiel der Nationalmannschaft verpasst.
 
Gerade waren sie im Oman, und haben die deutsche Mannschaft in ihrem letzten Test vor der WM unterstützt, aber nach Katar wollen sie nicht weiterreisen. Warum nicht?
 
Aus den vielfach genannten Gründen. Die Menschenrechtsverletzungen, dass so viele Bauarbeiter gestorben sind und natürlich, dass sie die komplette Infrastruktur erstmal hochziehen mussten für so ein Turnier und das fast alles danach wieder abgebaut wird. Das unterscheidet sich dann auch vom Oman. Das Stadion dort in Maskat steht bereits seit 25 Jahren. Dazu kommt die Korruption im Vorfeld der WM-Vergabe. Es ist einfach das Gesamtpaket bei Katar, was man als Fan nicht mehr mittragen kann.

Werden sie die WM im Fernsehen verfolgen?
 
Nein. Wenn ich nicht hinfahre, dann boykottiere ich das komplett. Es gibt ja zum Glück genug Alternativen. Das ist ja das Schöne, dass ab der Regionalliga der Fußball weitergespielt wird. Dieses Wochenende bin ich noch in Klagenfurt, weil Hertha dort ein Turnier (Wörthersee-Cup, Anm. d. Red) spielt. Nächste Woche fahre ich dann zu Herthas zweiter Mannschaft, die spielen in Meuselwitz, dazu macht Hertha noch ein paar Testspiele, zum Beispiel in Luckenwalde und in Hannover. Und wenn mal gar nichts geht, dann bleibt immer noch Herthas dritte Mannschaft, die spielt in der Bezirksliga. Da gehe ich immer hin, wenn es sich mit der Bundesliga-Mannschaft nicht überschneidet.
 
Es gibt ja einige bekannte Banner bei Spielen der Nationalmannschaft, die man häufiger sieht. Früher war es "Air Bäron", heute sind es ihr "Lichtenrade"-Banner, "Templin" oder "Halle/Saale". Kennen sie viele der anderen Groundhopper?
 
Klar, lernt man sich kennen. Spätestens im Stadion, weil man ja die Banner nebeneinander hängt. "Air Bäron" ist wahrscheinlich der Bekannteste, er ist der Vorreiter, der damit angefangen hat. Templin und Halle/Saale kenne ich auch ganz gut. Man sieht sich natürlich bei der An- und Abreise immer mal wieder.
 
Sind auch Freundschaften entstanden? Oder sind es Rivalitäten, weil jeder den besten Hängeplatz ergattern möchte?
 
Ja, da entstehen auch Freundschaften. Manchmal gibt es aber auch Rivalitäten, das stimmt schon. Der eine ist vielleicht mal ein bisschen sauer, dass er nicht so gut hängt. Und die Zaunleute sind auch immer die ersten am Eingangstor und rennen dann rein, sobald die Schleusen offen sind. Da stehen immer die gleichen 10 bis 20 Leute, die man kennt. Wir gehen auch häufig nach den Spielen einen Trinken.

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Da kommen sicher viele Erinnerungen an die verschiedenen Länder zusammen? Was waren denn die schönsten Auswärtsfahrten?
 
Die schönsten Auswärtsfahrten sind immer die Turniere, wobei Weltmeisterschaften besser sind als die Europameisterschaften. Südafrika und Brasilien waren beide absolut überragend. Bei einer WM kann man komplett Fußball gucken, nicht nur die deutschen Spiele. Am Ende des Turniers kommt man so auf 10 bis 15 Spiele. Die beste Stimmung war mit Abstand in Brasilien. Überall Partystimmung, da hatte man auch das Gefühl, dass sich die Leute auf die Besucher wirklich gefreut haben. Eines meiner schönsten Auswärtsspiele war aber das letzte Länderspiel im alten Wembley-Stadion 2000: England gegen Deutschland. Da bin ich sehr stolz drauf, dass ich da dabei war.
 
Und gibt es auch Schattenseiten, Orte und Stadien, wo sie nicht mehr allzu gerne hinfahren würden?
 
In Russland, Ungarn oder Serbien muss man immer etwas aufpassen. Da zieht man sich auch keine Fanutensilien an, wenn man durch die Städte läuft, weil man dort häufiger mal angegriffen oder auch abgezogen wird. Bis jetzt ging bei mir aber immer alles glimpflich aus.

Gibt es ein Stadion, das sie noch unbedingt sehen müssen? Oder nehmen sie es, wie es kommt?
 
Südamerika ist ein großer Traum von mir, vor allem Argentinien und dort die Hauptstadt Buenos Aires. Weil die Fans dort einfach noch ein bisschen fanatischer sind als hierzulande. Das Azteken-Stadion in Mexiko würde ich auch gerne mal sehen. Das ist einfach sehr groß und muss wirklich überragend sein.
 
Wie viele Spiele haben sie denn bislang besucht?
 
Also für Hertha waren es mit Sicherheit weit über 800 Spiele, für die Nationalmannschaft werden es schon so ungefähr 125 Spiele gewesen sein.
 
So ein Support ist ein zeitaufwendiges Hobby. Wie lässt sich das mit Beruf und Privatleben vereinen? Gibt’s da manchmal Probleme?
 
Beruflich arbeite im öffentlichen Dienst und da habe ich 30 Tage Urlaub im Jahr und zum Glück relativ flexible Arbeitszeiten. Privat habe ich eine Lebensgefährtin, die auch zu vielen Spielen mitfährt. Bei den Heimspielen kommt sie immer mit, auswärts fährt sie so die Hälfte, die ich fahre. Aber eines ist natürlich nicht möglich: Kinder. Die sind ausgeschlossen. Das wäre einfach zeitlich zu aufwendig, denn die Auswärtsfahrten gehen ja über den ganzen Tag und bei der Nationalmannschaft ist es nochmal aufwendiger mit Flügen und Übernachtungen.

Gibt es ein Spiel, das sie verpasst haben, wo ihnen heute noch das Herz blutet?
 
Der wunde Punkt bei mir ist das WM-Finale 2014. Ich hatte damals nicht das Vertrauen in die deutsche Mannschaft, dass die Truppe bis ins Finale kommt. Ich dachte, in Südamerika da gewinnt sowieso eine südamerikanische Mannschaft, buchst du also die Tickets nur bis zum Viertelfinale. Nach dem Sieg gegen Frankreich bin ich also nach Hause geflogen. Ja, dann habe ich das 7:1 gegen Brasilien verpasst und das Finale gegen Argentinien. Das war schon bitter. So etwas passiert mir kein zweites Mal. Das war richtig dumm. Da habe ich draus gelernt.
 
Sie kommen aus Lichtenrade, wohnen aber mittlerweile in Lichtenberg. Hatten sie mal überlegt, sich ein anderes Banner zuzulegen oder wird es immer das "Lichtenrade" bleiben?
 
Ich bin groß geworden in Lichtenrade. Es gab nie einen Gedanken, das zu verändern. Es hat weniger damit zu tun, dass das Banner einen Bekanntheitswert hat, sondern es geht darum, dass ich da herkomme und das wird immer ausschlaggebend sein. Dass ich da zum Beispiel als kleiner Junge gesessen bin und mich über die Weltmeisterschaft 1990 gefreut habe.
 
Vielen Dank für das Gespräch.
 
Das Interview führte Fabian Friedmann, rbb Sport.

Sendung: rbb24|Inforadio, 20.11.2022, 11:15 Uhr