Sabine Andresen

Sexualisierte Gewalt | Aufarbeitung "Der Sport ist noch nicht einmal so weit wie die Kirchen"

Stand: 03.10.2021 08:00 Uhr

Bis Ende September war Sabine Andresen Vorsitzende der Kommission zur Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch. Im Interview spricht sie über den Umgang des Sports mit dem Thema sexualisierte Gewalt.

sportschau.de: Frau Andresen, nach fünfeinhalb Jahren haben Sie Ihre Tätigkeit als Vorsitzende der Aufarbeitungskommission Ende September beendet. In dieser Zeit hat die Kommission viele Kontexte untersucht, in denen Betroffene sexualisierte Gewalt erfahren haben etwa im Umfeld von Kirchen, der Familie, der Heimerziehung und auch im Sport. Wie haben Sie die Aufarbeitung und den Willen dazu im Sport wahrgenommen?

Sabine Andresen: Ich würde sagen, dass wir in punkto Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs im Sport erst am Anfang stehen. Da sind allenfalls erste Schritte gegangen und es braucht wirklich deutlich mehr Anstrengung, Engagement, Offenheit, Bereitschaft und Strukturen, um Aufarbeitung hier voranzubringen. Der Sport ist sehr unterschiedlich aufgestellt und die einzelnen Verbände sind autonom. Insgesamt ist mein Eindruck, dass es sehr langsam vorangeht.

Ich hatte schon den Eindruck, dass bei dem Hearing im Oktober 2020 eine Öffnung sichtbar wurde. Dass auch erkennbar wurde, etwa bei den Verantwortlichen des DOSB, dass Prävention nicht das einzige ist, womit sie sich beschäftigen müssen, sondern dass Aufarbeitung hier ganz elementar ist. Ich nehme es aber auch so wahr, dass - wie in vielen anderen Bereichen auch beim Sport -diejenigen, die Aufarbeitung wollen, nicht nachlassen dürfen, sich dafür einzusetzen.

sportschau.de: Sie haben das Hearing schon angesprochen, die Veranstaltung der Aufarbeitungskommission explizit zu sexueller Gewalt im Umfeld Sport. Das war vor genau einem Jahr in Berlin.  Betroffene haben dort ihre Geschichten erzählt. Funktionsträgerinnen und -träger aus dem Sport waren genauso dabei, wie Verantwortliche aus Politik, Wissenschaft und Athletenvertretungen. Was hat sich denn aus Ihrer Sicht seit dem Hearing getan, in diesem einen Jahr?

Andresen: Mein Eindruck ist, dass es an verschiedenen Stellen in Politik und Sport die Erkenntnis gegeben hat‚ Betroffene stärker zu beteiligen. Hoffentlich werden künftig immer mehr Verantwortlich dies einsehen und wahrnehmen, wie wichtig die Erfahrungen, das Wissen, die Expertise von betroffenen Menschen sind. Inzwischen hat es ja verschiedene Einladungen gegeben an Betroffene, auch an diejenigen, die zum Beispiel beim Hearing waren. Das ist erst einmal ein wichtiger Schritt. Gleichwohl ist es sehr wichtig darauf zu achten, dass nicht die Betroffenen die Arbeit machen, die eigentlich die Verantwortlichen im Sport und in der Politik voranbringen sollen.

"Ich sehe einen wirklich großen Handlungsbedarf"

sportschau.de: Ein Punkt, der bei der Veranstaltung hat aufhorchen lassen, war eine Ankündigung der DOSB Vizepräsidentin Petra Tzschoppe. Sie hat zugesagt, dass der Deutsche Olympische Sportbund Zahlungen für Sachleistungen im Rahmen des ergänzenden Hilfesystems wieder aufnehmen wird. Bis 2016 konnten Betroffene aus dem Sport Anträge stellen, danach hat der DOSB die Zahlungen eingestellt. Ein Jahr nach dieser überraschenden Ankündigung ist nach wie vor nichts passiert. Wie bewerten Sie das?

Andresen: Ich glaube, alle hätten sich gewünscht, dass das sehr viel schneller umgesetzt wird. Und heute, ein Jahr später ist der DOSB diesbezüglich immer noch nicht weiter. Die genauen Gründe kenne ich jetzt nicht. Aber ich sehe einen wirklich großen Handlungsbedarf vor allem auch mit Blick darauf, dass Betroffene nicht in ihrer Bereitschaft zu vertrauen, dass sich etwas tut, erneut massiv enttäuscht werden und sich auch dann zu Recht hintergangen fühlen. Insofern war es einerseits ein so wichtiges Signal bei dem Hearing und andererseits ist es besonders bitter, wenn ein Jahr später noch nichts geschehen ist.

sportschau.de: Haben Sie das in anderen Kontexten z.B. der Kirche ähnlich erlebt? Ist es üblich, dass so etwas so lange dauert?

Andresen: Mein Eindruck ist auch aus anderen, internationalen Zusammenhängen: In dem Moment, in dem es um Zahlungen geht, rangieren die Interessen von Institutionen oder Verbänden erst einmal wieder höher im Vergleich zu den Interessen von Betroffenen. An der Stelle, würde ich sagen, ist es dann der Auftrag einer Kommission wie der Aufarbeitungskommission, ein Bewusstsein zu schaffen: Es geht hier um ein Recht von Betroffenen auf Anerkennung des Unrechts und Leids und um Unterstützung. Das ist vielleicht nicht kodifiziert. Aber es ist etwas, wozu sich heute Organisationen verpflichten und dafür nach Wegen der Umsetzung suchen müssen. Wenn Betroffene den Eindruck gewinnen, es gehe eher darum, nach Schlupflöchern zu suchen, dann wird Vertrauen erneut verspielt.

Und ob das jetzt spezifisch ist für den Sport ist? Viele vergleichen häufig den Sport mit der Kirche. Kirchen haben die Thematik der Zahlungen an Betroffene ein wenig anders geregelt. Vielleicht kann man an der Stelle sagen: Der Sport ist noch nicht einmal so weit wie die Kirchen. Bei aller notwendigen Kritik an den Kirchen - im Sport sind noch ganz andere Schritte nötig. Das ist meine Einschätzung dazu.

"Betroffenenrat kann Signalwirkung haben"

sportschau.de: Beim Verband des Pferdesports, der Deutschen Reiterlichen Vereinigung, FN, hat sich gerade ein Betroffenenrat konstituiert. Das ist der erste Betroffenenrat überhaupt in einem deutschen Sportverband. Was halten Sie davon?

Andresen: Ich habe mich erst einmal gefreut, dass es überhaupt zu diesem Betroffenenrat gekommen ist, weil es eine Signalwirkung haben kann. Vermutlich kann man von der ganzen Dynamik rund um Aufarbeitung in der katholischen Kirche lernen, dass eine gute Vernetzung von Betroffenen auch Power bedeutet, Ermächtigung ist und öffentlichen Druck erzeugt. Das zusammen spielt ja eine große Rolle, Aufarbeitung voran zu bringen.Und auch daran kann man sehen, wie weit der Sport noch von einer wirklich umfassenden Aufarbeitung entfernt ist, wenn wir von nur einem Betroffenenrat im Moment sprechen.

Das Interview führte Andrea Schültke

Sexueller Missbrauch im Sport - Das große Tabu

Andrea Schültke, Sportschau, 13.07.2019 19:05 Uhr