Symbolbild: Fußballspielerinnen gehen über einen Trainingsplatz. Bild: picture alliance / Charlotte Wilson

Frauen im Fußball "Es gibt hier noch mehr Sexismus, als man denkt"

Stand: 09.10.2023 11:45 Uhr

Die Diskussionen nach dem Kuss-Vorfall bei der Fußball-WM zeigen: Auch im Jahr 2023 ist noch nicht jedem klar, was eine Grenzüberschreitung ist. Auch Frauen im Berliner und Brandenburger Fußball berichten von Sexismus im Alltag und in Sportstrukturen. Von Simon Wenzel

Eine Berliner Regionalliga-Spielerin und ehemalige Nationalspielerinnen berichten von sexistischen Sprüchen
 
Vereinsfunktionärin beklagt strukturellen Sexismus im Fußball
 
Beratungsstellen raten Vereinen und Verbänden, Verhaltensregeln aufzustellen, um Grenzen klarer abzustecken

Die Diskussionen um das Thema der letzten Wochen im Weltsport waren für Frauen und Fußballerinnen teilweise schwer zu ertragen. Da werden die spanischen Nationalspielerinnen zum ersten Mal Weltmeisterinnen - und dann passiert auf der Siegerehrung ein Skandal, der das überlagert: Der spanische Verbandspräsident Luis Rubiales küsst die Spielerin Jennifer Hermoso auf den Mund – gegen ihren Willen. Im Anschluss weigert er sich auch noch zurückzutreten und bekommt dafür sogar Unterstützung, zum Beispiel aus Deutschland vom Aufsichtsratsmitglied des FC Bayern, Karl-Heinz Rummenigge. Der befand: "Was er da gemacht hat, ist – sorry, mit Verlaub - absolut okay."

Tabea Kemme
"Die Reaktion aus Deutschland war erschütternd"

Ihre Kritik an Luis Rubiales und dem spanischen Fußballverband in Folge des Kuss-Skandals fiel deutlich aus. Im Interview spricht Tabea Kemme nun über Sexismus im deutschen Fußball und darüber, wen sie nun in der Pflicht sieht.mehr

Solche Aussagen und der viel zu späte Rücktritt von Rubiales haben auch die Berliner Regionalliga-Spielerin Katharina vom Dahl "schockiert". Der Vorfall sei auch in vielen Gesprächen mit aktuellen und ehemaligen Mannschaftskolleginnen ein Thema gewesen, sagte sie rbb|24.
 
Vom Dahl, die derzeit bei Türkiyemspor in Berlin spielt, hat vor zwei Jahren erstmals öffentlich thematisiert, dass es in ihrem Sport immer noch sexistisch zugeht. Damals noch als Spielerin von Berolina Mitte rief vom Dahl mit anderen Spielerinnen eine Kampagne unter dem Titel "Clubs for Change" ins Leben, um auf Sexismus im Frauen-Fußball aufmerksam zu machen.
 
"Das, was jetzt bei der Siegerehrung der Weltmeisterschaft passiert ist, war wieder etwas, was total die Relevanz von dem, was wir damals gemacht haben, gezeigt hat", sagt vom Dahl. Auch, weil die erhoffte deutliche Distanzierung Fußball-Deutschlands von Fußball-Funktionär Luis Rubiales und seiner Tat auf sich warten ließ.

Reaktionen der Fußballwelt haben den "Status Quo" wiedergegeben

"Es war eigentlich klar, was da passiert ist und dass das überhaupt nicht in Ordnung war“, sagt die Fußballerin. Das an den Vorfall anschließende Verhalten und die zögerliche Reaktionen innerhalb der Fußballwelt hätten dann "vielleicht doch so ein bisschen den Status Quo wiedergegeben". Offensichtlich sei es weiterhin so, "dass Grenzüberschreitungen vielleicht doch nicht so klar sind für einige und dass da noch viel Aufklärungsbedarf herrscht", sagt vom Dahl.
 
Das sehen auch andere so: Die ehemalige Nationalspielerin und Olympiasiegerin Tabea Kemme nannte im rbb|24-Interview das Verhalten des Deutschen Fußballbundes "erschütternd". Ulrike Häfner, Vizepräsidentin bei Kemmes langjährigem Verein Turbine Potsdam, sagt: "Es gibt hier noch mehr Sexismus, als man denkt."

Symbolbild: Ein Fußballspieler sitzt in der Umkleidekabine im Halbdunkeln und hält nachdenklich einen Fußball in den Händen. (Quelle: imago images/E. Bengoetxea)
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Häfner macht strukturellen Sexismus und Sexismus im Alltag aus

Häfner, die sich nicht nur bei Turbine engagiert, sondern auch parteipolitisch in der SPD-Frauenorganisation (ASF), sieht verschiedene Arten von Sexismus, denen Frauen im deutschen Fußball ausgesetzt sind. So gebe es übergreifend einen "strukturellen Sexismus", bei dem Spielerinnen benachteiligt würden, weil sie in Frauen-Teams spielen und diese in den meisten Vereinen hinter den Männer-Mannschaften zurückstecken müssten: "Sie haben die schlechteren Trainingszeiten, die schlechteren Kabinen - die Rahmenbedingungen unterscheiden sich einfach deutlich von dem, was den Männern zur Verfügung steht." Hier sehe sie "Unrechtsverhältnisse im System, die vielleicht weniger direkt mit dem Wort Sexismus zu beschreiben sind, aber dazu beitragen", so Häfner. Die Frauen würden schließlich in den Strukturen herabgesetzt.
 
Besonders im Leistungssport seien Frauen auf ein Unterstützungssystem angewiesen, in dem viele Männer tätig seien, sagt Häfner: Trainer, Funktionäre, Physiotherapeuten, Menschen die den Weg für die sportliche Karriere bereiten. In den ersten beiden Ligen beispielsweise sind derzeit 20 von 26 Chef-Trainern Männer, eine durchaus repräsentative Quote, wie Stichproben in tieferen Ligen nahelegen. Ein Ungleichgewichtig, dass Sexismus befördern könnte.

Darüber hinaus seien Frauen aber auch im Alltag Sexismus ausgesetzt: "Sexualisierende Werbung, Sprüche oder blöde Witze auf Kosten von Frauen: Das alles spielt sich natürlich auch im Sport ab. Es ist ja kein anderes Universum", sagt Häfner.

Auch Regionalliga-Spielerin Katharina vom Dahl berichtet von Sexismus im Sportalltag: "Kommentare, die oftmals auf den Körper abzielen, Bewertung von weiblichen Körperteilen oder Outfits. Es geht ums Aussehen oder es fallen anzügliche Bemerkungen. Häufig auch vom Seitenrand an den Plätzen - da kommt ja jeder hin", sagt vom Dahl. Das passiere nicht jede Woche, aber zu oft.
 
Solche sexistischen Zurufe von Zuschauern waren für sie und weitere Spielerinnen bei Berolina Mitte der Anlass, in den eigenen Verein "zu horchen", sagt vom Dahl. Daraus entstand die Aufklärungskampagne "Clubs for Change" gegen Sexismus – mit dem eigenen Verein als Testfeld. Denn es stellte sich heraus: Viele Spielerinnen hatten solche Erfahrungen schon gemacht. Mit 20 weiteren Spielerinnen erarbeitete vom Dahl damals ein Präventions- und Interventionskonzept, Werte wurden in der Vereinssatzung verankert, es gab Workshops für Spielerinnen, Trainer und Eltern. Vom Dahl selbst spielt schon seit 25 Jahren Fußball in Vereinen, früher in Niedersachsen, später in Berlin. Trotzdem erlebte sie erst durch ihr eigenes Engagement zum ersten Mal, wie eine Kabine zu einem bewussten Raum für Diskussionen und Austausch über Erfahrungen mit Sexismus wurde.

"Vorher hat es immer nur so unterschwellig mitgeschwungen", sagt vom Dahl. "Da gab es vielleicht mal eine kleine Bemerkung zu einer Mitspielerin, sowas wie: 'Hast du gehört, was der da von außen gerufen hat?' oder so. Aber insgesamt hat man es schon eher so ein bisschen wegignoriert", sagt sie.
 
Die Gründe dafür seien unterschiedlich gewesen: "Manche haben das bis dahin vielleicht wirklich nicht an sich rankommen lassen, die konnten das wegstecken. Für andere war es aber auch schon immer ein Problem, die haben sich unwohl gefühlt, deshalb aber gedacht: "Es sagt niemand was, also mach' ich da jetzt auch kein Fass auf'", sagt vom Dahl.

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Sexuelle Belästigungen auch bei Profis

Die ehemalige Fußball-Nationalspielerin Tabea Kemme bestätigt diese Beobachtungen.: "Fälle mit sexualisierter Gewalt passieren im Trainingsalltag“, sagte sie im rbb-Interview. Kemme und die Nationaltorhüterin Almuth Schult berichteten bereits vor einem Jahr erstmals dem NDR und der "Süddeutschen Zeitung" von ihren Erfahrungen mit Sexismus im Fußball [ndr.de]. Eine weitere Bundesliga-Spielerin, die sich im Bericht anonym äußerte, erzählte damals sogar von sexistischen Sprüchen eines Trainers in der Bundesliga gegenüber Spielerinnen.

Und auch Kemme bestätigt, dass das Problem nur selten auf den Tisch kam. "Als Spielerin habe ich nie gelernt, dass man es anspricht, wenn man sich in einer Situation unwohl fühlt oder in einer Scham befindet. Es ging eher darum, es als vermeintlich witzig wegzuradieren", so Kemme. Sie spricht von "alten Automatismen".
 
Auch die ehemalige Nationalspielerin und spätere National-Trainerin Steffi Jones schildert ähnliche Situationen: "Von mir gab es bei doofen Sprüchen zwar meistens Widerworte", sagt sie. "Aber es sind nicht immer alle in der Lage das zu tun. Und ich muss auch sagen: Selbst bei mir kam es teilweise erst, umso älter ich wurde. Als junge Spielerin hab ich das auch manchmal nur aufgenommen und gedacht: Das ist doof. Erst später wurde mir dann bewusst, dass das nicht doof, sondern einfach nicht in Ordnung war und gar nicht geht."

Problem Machtgefüge in der Männerdomäne Fußball

Jones sitzt seit kurzem im Vorstand einer neuen, vom organisierten Sport unabhängigen Ansprechstelle für Betroffene von Gewalt im Sport: dem Verein "Safe Sport", gegründet unter anderem vom Bundesinnenministerium. An diese können sich Betroffene sexualisierter, psychischer und physischer Gewalt wenden.
 
Eine solche Ansprechstelle außerhalb des Sports sei wichtig, sagt Jones. "Das Ding bei einem Machtgefüge wie es in Fußball-Vereinen oder -Verbänden herrscht, ist ja: Ich habe immer Angst, wenn ich etwas ausspreche, dann habe ich selbst Konsequenzen zu befürchten."
 
Entsprechend schwer ist es auch, aktive Spielerinnen zu finden, die über negative Erfahrungen berichten. In tieferen Ligen geht es vielleicht nicht um die Profi-Karriere oder finanziellen Druck, aber als Nestbeschmutzerin will auch hier niemand gelten.
 
Steffi Jones will mit ihrem Engagement und dem Angebot von "Safe Sport" Frauen ermutigen, sich zu wehren: "Man muss ja auch den Umkehrschluss sehen: Was passiert denn, wenn ich das aussitze und über mich ergehen lasse - habe ich dann noch Spaß?"

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Verhaltenskodex in Vereinen und Verbänden kann helfen

Die Ansprechstelle "Safe Sport" gibt es erst seit diesem Sommer. Genaue Zahlen, wie das Angebot angenommen wird, wollen Jones und Geschäftsführerin Ina Lambert deshalb noch nicht kommunizieren. Die Resonanz sei allerdings "auf jeden Fall hoch", sagt Lambert. Auch Mannschafts-Sportlerinnen und -Sportler hätten sich bereits bei "Safe Sport" gemeldet.

Der Verein bietet juristische und psychologische Hilfe bei klaren Fällen von Gewalt aber auch Beratung für Menschen, die das Gefühl haben, von einer Grenzverletzung betroffen zu sein. Dabei könne es laut Lambert um Sprüche gehen, die unter die Gürtellinie gehen oder um Berührungen im Training, die als zu lang oder an zu intimen Stellen empfunden werden. "Es ist nach Ausmaß vielleicht noch nicht strafbar, kann aber ganz klar grenzüberschreitend sein", sagt Ina Lambert.
 
Dafür, was eine Grenzüberschreitung ist und was nicht, ist das Erleben der Betroffenen entscheidend, nicht eine mögliche Intention des potenziellen Täters. Das ist die entscheidende Grundlage. Wie die Reaktionen auf den Kuss des spanischen Fußballpräsidenten zeigen, scheint die aber noch nicht allen bekannt zu sein.
 
"Ich will nicht jedem, der etwas relativiert, eine böse Absicht unterstellen“, sagt Lambert, "aber dann ist es stattdessen eben eine Unaufgeklärtheit oder eine gewisse Ignoranz". Sie spricht sich deshalb dafür aus, dass Vereine und Verbände, sich selbst verbindliche Regeln setzen - ähnlich wie es mit "Clubs for Change" bei Berolina Mitte praktiziert wurde: "einen Verhaltens- oder Ehrenkodex, nach dem sich alle Aktiven, Trainer:innen und Vorstände verhalten müssen. Damit könnte man einiges an Unklarheiten vermeiden", sagt Lambert. Viele Sportverbände würden so ein Konzept auch bereits umsetzen.
 
Grundsätzlich gelte: Je mehr Verbände Haltung zum Thema Sexismus und sexualisierter Gewalt zeigen würden, desto besser. "Wir brauchen eine Kultur, wo hingeschaut wird und nicht bagatellisiert, sondern sensibilisiert wird", sagt Lambert. Nur so könnte frühzeitig eine Grenze gezogen werden. Das ist wichtig, denn Sprüche könnten auch eine Täterstrategie von Täter:innen sein, die Übergriffe planen, so Lambert.

Häfner vom DFB enttäuscht

Turbine-Vizepräsidentin Ulrike Häfner fordert in dem Zusammenhang mehr Engagement vom Deutschen Fußball-Bund. "Eigentlich hat in Deutschland niemand ein Erkenntnisproblem, wir haben ein Umsetzungsproblem und das ist massiv", sagt Häfner. Ihr ernüchterndes Fazit: "Daran merkt man, dass die Entscheider es nicht wollen. Es stört. Frauen stören mit ihren eigenen Ansprüchen und Bedürfnissen das System, in dem es sich Jungs und Männer bequem gemacht haben."
 
Im Strategiepapier zur Entwicklung des Frauen-Fußballs, "FF27", das der DFB vor rund einem Jahr veröffentlichte, spielen Maßnahmen gegen Sexismus und sexuelle Belästigung kaum eine Rolle. Nur einmal ist vage die Rede von möglichen Vorträgen zum Thema. Der Fußball der Frauen soll professionalisiert und besser vermarkten werden, um letztlich auch zu wachsen - wäre es da nicht wichtig, Sicherheitsstrukturen mitzudenken?
 
Auf eine Anfrage des rbb dazu, was über die Vorträge hinaus geplant sei, ob es eine systematische Befragung unter Fußballerinnen zum Thema Sexismus gebe und ob gemeldete Fälle registriert und ausgewertet würden, reagierte der Verband nicht.

Berliner Fußballverband will Meldesystem ausbauen

Der Berliner Fußballverband (BFV) verweist auf sein Online-Meldesystem für Fälle von Gewalt- und Diskriminierung. Dort seien auch Ansprechpersonen hinterlegt. Um Fälle von sexualisierter Gewalt und Sexismus gegen Frauen würden sich ein Anti-Diskriminierungsbeauftragter und Christine Lehmann vom Ausschuss für Frauen- und Mädchenfußball kümmern.
 
Der BFV wolle die bestehenden Maßnahmen weiter ausbauen und konsequent fortführen, teilt ein Sprecher mit. Statistisch separat erfasst würden Fälle von Sexismus allerdings nicht.

Katharina vom Dahl rät Spielerinnen und Vereinen, in denen Datenerhebungen und Vorschriften fehlen, es im Kleinen zu versuchen. Im Verein Zu fragen: "Wie ist es für euch hier, haben wir eine sichere Atmosphäre oder gibt es Dinge, die ihr bisher nicht angesprochen habt?" Entscheidend ist aber, dass bei Missständen dann auch gehandelt wird.

Sendung: rbb24 Inforadio, 28.09.2023, 12:15 Uhr