
Fans hinter Gittern Wenn der Fußball zu einem kleinen Stück Freiheit wird
Fußballfans gibt es überall, auch hinter Gittern. Seinen Herzensverein zu verfolgen, ist im Gefängnis allerdings nur mit Einschränkungen möglich. Und doch ist der Fußball in der JVA Tegel großes Thema - nicht nur für die Gefangenen.
"Das ist mein kleines Reich", sagt Philipp verheißungsvoll und öffnet die Tür zu seinem wenige Quadratmeter großen Haftraum. Es braucht nur einen kurzen Blick, um seine große Leidenschaft sofort zu erkennen: ein Poster vom Aufstieg an der Wand, eine Eisern-Union-Decke auf dem Bett, am Fenster hängt ein Trikot von Torsten Mattuschka, in der Ecke steht eine Kleiderstange voller T-Shirts des 1. FC Union Berlin. "Wenn man mir das Fan-Dasein nehmen würde, wäre das eine größere Bestrafung als alles andere", sagt der 34-jährige Gefangene aus der JVA Tegel.
Radio und Videotext statt Stadion
Philipp ist Vollblut-Unioner. Seit 24 Jahren ist er Fan, half beim Stadionbau, heiratete in Rot und Weiß und rief bei der Geburt seiner Zwillinge noch aus dem Kreissaal bei der Mitgliederbetreuung an, um die Kleinen direkt zu Vereinsmitgliedern zu machen. Wann immer er konnte, besuchte er zudem die Spiele seiner Eisernen in der Alten Försterei. "Da ist man noch leicht an Tickets gekommen. Wenn ich zum Spiel wollte, bin ich zum Stadion gefahren und habe mir eins gekauft. Das soll jetzt ja anders sein", sagt er.

Der Haftraum von Philipp in der JVA Tegel
Es zeigt, wie lange Philipp schon nicht mehr da war. 2018 wurde er wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt, ein Jahr vor dem Aufstieg des 1. FC Union. Seine Liebe zu Union lebt er aber auch im Gefängnis weiter aus - allerdings mit großen Einschränkungen. "Am meisten vermisse ich es, ins Stadion zu gehen. Dieses Gemeinschaftsgefühl aus der Alten Försterei fehlt hier einfach. Man ist hier zwar auch unter vielen, aber trotzdem einsam", erklärt er.
Die Spiele verfolgt er allein in seiner Zelle. Bezahlfernsehsender wie Sky oder Dazn stehen selbstverständlich nicht auf der Programmliste der JVA. Um live dabei zu sein, schaltet Philipp stattdessen das Radio ein und schaut in den Videotext. Für ihn ein purer Genuss: "Es sind Zeiten, in denen ich mich komplett aus der Haft rausziehen kann. Wenn ich nur schon die Stadion-Atmosphäre höre, ist es, als hätte ich ein Stück Freiheit zurück", sagt er.
Um auch visuell zu erleben, was seine Köpenicker am Spieltag gemacht hat, muss er sich bis abends gedulden. Dann sind die Sportschau oder das aktuelle Sportstudio Pflichtprogramm.

Fußball verbindet Gefangene und Personal
Unter den 827 Menschen, die derzeit in Tegel inhaftiert sind, ist Philipp natürlich längst nicht der einzige Fußball-Fan. Genaue Statistiken gäbe es keine, aber der Laustärke im Haus bei großen Spielen nach zu urteilen, seien es eine ganze Menge, sagt Anstaltsleiter Martin Riemer. "Gerade bei Welt- und Europameisterschaften muss ich gar nicht selbst gucken, wenn ich noch im Büro sitze, sondern habe durch die Geräuschkulisse eine Idee, was wohl gerade im Spiel passiert ist." Das Thema Fußball sei in seiner JVA allgegenwärtig.
Und es verbindet. Sozialarbeiter Jürgen Kroll berichtet, dass er über die Sportart regelmäßig einen Draht zu den Gefangenen finden würde. "Das ist oft eine Eintrittskarte, um überhaupt ins Gespräch zu kommen", sagt er. Der lockere Austausch über Ergebnisse, Spieler und Transfers sei deshalb durchaus erwünscht und könne ein Türöffner sein, gerade im Umgang mit sonst sehr verschlossenen Häftlingen.
Hin und wieder zu besonderen Anlässen würden Personal und Häftlinge auch mal alle gemeinsam ein Spiel schauen. "Allerdings nur, wenn es bis 21:15 Uhr vorbei ist. Dann ist Einschluss", so der Sozialarbeiter.
Derby der Gefängnisse
Zudem haben die Gefangenen in der JVA die Möglichkeit, selbst Fußball zu spielen. Zweimal die Woche dürfen sie auf dem anstaltseigenen Sportplatz trainieren, der sogar mit einer Flutlichtanlage ausgestattet ist.
Außerdem gibt es ab und an Duelle mit anderen Gefängnissen, zum Beispiel der JVA Heidering. Die Gefangenen würden dafür extra in die jeweils andere Anstalt transportiert werden, erklärt Riemer. "Neben allen sportlichen Aspekten gehört ja auch der Gemeinschaftsaspekt dazu. Sich an Regeln zu halten, Konflikte auszutragen, sich gegenseitig zu unterstützen und füreinander einzustehen - das sind alles soziale Eigenschaften, die durch den Fußball gefördert werden", sagt er.
Im Gefängnis-Derby zwischen Tegel und Heidering habe das Team aus seiner Anstalt sportlich allerdings zuletzt leider immer das Nachsehen gehabt, so Riemer.

Union-Fan Philipp auf dem Sportplatz der JVA Tegel
Spott und Zusammenhalt
Dass der Fußball hinter Gittern so präsent ist, schätzt auch Philipp. Es sei eines der wenigen Themen, das nichts mit der Haft zu tun hätte. "Gesprächsstoff dieser Art ist hier sonst schwer zu finden", sagt er.
Zwar müsse man immer mal wieder einen spöttischen Kommentar aushalten, wenn das Lieblingsteam verloren hat, "was die anderen Berliner Mannschaften angeht, bin ich allerdings zurzeit im Vorteil. Ich kann einfach immer sagen: Kommt ihr erstmal in die 1. Liga", sagt Philipp lächelnd. "Aber Fußball-Fans halten hier untereinander zusammen, egal, welchem Verein sie angehören. Man neckt sich ein bisschen, aber alles im Rahmen."

Der Traum von der Alten Försterei
Voraussichtlich noch bis 2033 wird Philipp in der JVA Tegel in Haft sitzen. Mit die größten Momente in der Vereinsgeschichte seiner Eisernen hat er nur von hier aus erlebt: den Aufstieg, die Qualifikation fürs europäische Geschäft, das Champions-League-Spiel gegen Real Madrid.
Die Perspektive, irgendwann wieder in der Alten Försterei zu stehen und eventuell auch selbst mal ein internationales Spiel seiner Eisernen zu sehen, würde ihm viel Kraft geben, sagt er. "Es hilft mir, das hier durchzustehen. Man denkt eben nicht an den Haftalltag."
Bis dieser Traum jedoch in Erfüllung geht, bleiben nur Radio, Videotext und sein rot-weiß dekorierter Haftraum. "Auch dafür bin ich dankbar. Wenn ich so weiter Fan sein darf, wie gerade, reicht mir das voll und ganz", so Philipp.
Von Lukas Witte, mit Material von Torsten Michels
Sendung: Der Tag, 29.04.2025, 19:15 Uhr