Joshua Kimmich

NDR-Sport DFB-Rechtsverteidiger Kimmich: "Ehrgeizling" mit Weltklasse-Fähigkeiten

Stand: 04.06.2024 17:24 Uhr

Hinter Joshua Kimmich liegen in der deutschen Nationalmannschaft wechselhafte Jahre. Der 29-Jährige wurde viel hin- und hergeschoben. Bundestrainer Julian Nagelsmann aber hat sich klar auf ihn als Rechtsverteidiger für die EM festgelegt. Eine Entscheidung, die dem DFB-Team zugutekommen kann, wie die Daten zeigen.

Von Tobias Knaack

Kimmich ist in den Tagen vor der Europameisterschaft im eigenen Land vielleicht so klar wie lange nicht. Seine Zukunft beim FC Bayern? Keine Eile! "Die Situation für mich ist ja nicht ungewiss, sondern ganz klar: Ich habe noch ein Jahr Vertrag." Die Münchner seien "erster Ansprechpartner". Zumal er sich freue, "dass wir einen neuen Trainer gefunden haben. Es ist schön, dass wir eine Baustelle weniger haben."

Dass sowohl der deutsche Rekordmeister als auch die Nationalmannschaft eine Baustelle weniger in ihrer jeweiligen Startelf haben, liegt wiederum an - Kimmich. Und auf dem Nagelsmann-Team und der EM liege "komplett" sein Fokus. Nach drei enttäuschenden Turnieren "wollen alle etwas geraderücken", sagt Kimmich.

Kimmich: Wanderer zwischen den Positionen

Auch er selbst, der zumindest in der Nationalmannschaft bewegte Jahre hinter sich hat. Bei seinem ersten Turnier, der EM 2016, war er Rechtsverteidiger, nach dem WM-Desaster 2018 rückte er als Erbe von Sami Khedira ins Mittelfeld. Zur Europameisterschaft 2021 wurde er zum Schienenspieler, danach wieder im steten Wechsel: Mittelfeld, Rechtsverteidiger, Mittelfeld, Rechtsverteidiger.

Weltklasse, das zeigen die GSN-Daten, ist Kimmich auf fast jeder der Positionen. Lediglich auf der "rechten Schiene" hat der frühere RB-Leipzig-Profi, der von seinem Heimatverein VfB Stuttgart 2015 zum FC Bayern wechselte, laut GSN-Index "nur" internationale Klasse (84,80). Nähme man nur ihn in den Blickpunkt, dann wäre er am besten im defensiven Mittelfeld aufgehoben (90,92).

Rechtsverteidiger heute mit komplett veränderter Rolle

Dort hat sich aber zuletzt ein harmonisches Duo gefunden: Rückkehrer Toni Kroos ist zusammen mit Robert Andrich gesetzt. Um den scheidenden Real-Madrid-Star hat Nagelsmann das Team strategisch aufgebaut - und der Leverkusener ist zweikampfstärker als Kimmich. Dessen Wert ist als rechter Verteidiger (88,74) am größten, auch und gerade weil er eine Baustelle schließt.

Was ist der GSN-Index?

Vier-Säulen-Prinzip:

  • 1. "fußballerische Eigenschaften": Technik, Spielübersicht oder der erste Kontakt: Einschätzungen über 130 fußballspezifische Eigenschaften von mehr als 300 Scouts weltweit.
  • 2. "fußballerisches Potenzial": Wo werden Spieler besser, wo stagnieren sie oder entwickeln sich zurück? Ein Algorithmus analysiert Daten aus der ersten Säule und vergleicht Spielertypen.
  • 3. "Performance auf dem Spielfeld": Tore, Pässe, Fouls, Schüsse oder auch Abseitspositionen: die Spiel-Basisdaten und weiterführende Analysen wie "Expected goals" oder "Action scores" werden durch einen Algorithmus in einen übergeordneten Kontext gesetzt - zum Beispiel positionsbezogen.
  • 4. "Spielniveau": Jede Mannschaft oder Liga hat einen Zahlenwert, der ihre Stärke bemisst. Oberliga oder Champions League: Umso höher das Spielniveau des Gegners, desto positiver wirkt es sich auf den GSN-Index aus.

Bewertungs-Skala:

  • 85 - 100: Weltklasse
  • 70 - 85: internationale Klasse
  • 60 - 70: Durchschnitt Bundesliga bzw. der Top 5 Ligen
  • 50 - 60: Durchschnitt 2. Bundesliga
  • 40 - 50: Durchschnitt 3. Liga
  • 30 - 40: Durchschnitt Regionalliga

Zwei GSN-Index-Werte:

  • aktueller GSN-Index: zeigt die aktuelle, allumfassende Qualität eines Spielers basierend auf den Daten der vier Säulen und Algorithmus-Berechnungen.
  • möglicher GSN-Index: Künstliche Intelligenz ermittelt anhand der Daten das bestmögliche, zukünftige Leistungsniveau eines Spielers.

Was ist der "Performance-Score"?

  • Tore, Pässe, Fouls, Schüsse oder auch Abseitspositionen: die Spiel-Basisdaten und weiterführende Analysen wie "Expected goals" oder "Action scores" werden beim "Performance-Score" durch einen Algorithmus in einen übergeordneten Kontext gesetzt - zum Beispiel positionsbezogen.
  • Beim "Performance-Score" sind alle Spieler zunächst einmal auf 0 gesetzt und werden anhand der reinen Leistungsdaten, kombiniert mit Datenmodellen, bewertet.
  • Damit liefert dieser Wert eine Einschätzung, wie gut oder schlecht ein Spieler aktuell spielt.
  • Der "Performance-Score" ist ein Baustein des GSN-Index, der wiederum eine generelle, langfristige Bewertung aller Fähigkeiten, Potenziale und Qualitäten eines Spielers ist.

Zumal der 29-Jährige mit seinen Stärken - Passspiel, taktisches Verständnis, Übersicht unter Druck - gut zu den Anforderungen an eine Position im Fußball passt, die sich in der vergangenen Dekade so stark verändert hat, wie kaum eine andere.

Private Sonderschichten für die Rolle als Rechtsverteidiger

Der gerne als notorischer "Ehrgeizling" belächelte Kimmich hat die Rolle in Verein und Nationalmannschaft angenommen. "Als Rechtsverteidiger", sagte er, "ist das Anforderungsprofil ein bisschen anders als auf der Sechs." Deshalb hat er sich mit privaten Sonderschichten in München fit gemacht für die "anderen Abläufe", um sich "bestmöglich vorzubereiten".

Es ist etwas, das gerade hinsichtlich des Stellungsspiels sinnvoll erscheint, da er nicht der sprintstärkste Spieler ist. Zu sehen war das auch am Montag gegen die Ukraine, als er mehrmals überlaufen wurde.

Alexander-Arnold, Koundé und Carvajal sind das Maß aller Dinge

Kimmichs Anspruch ist, die Rolle so gut auszufüllen wie die europaweit besten Rechtsverteidiger: der Engländer Trent Alexander-Arnold vom FC Liverpool (91,31), der Franzose Jules Koundé vom FC Barcelona (89,51) oder der spanische "Altmeister" Dani Carvajal von Real Madrid (88,80).

Allen ist gemein, dass sie sich - in ihren eigenen Nuancen verschieden natürlich - neben ihren Defensivaufgaben vor allem auch durch ihre Teilhabe am Offensivspiel auszeichnen: durch Läufe, Flanken, Diagonalpässe. Als Anspielstationen für die Mittelfeldspieler - oder als Standardschützen.

Andere körperliche und technische Anforderungen an die Position

Die Rolle des Rechtsverteidigers hat sich in den vergangenen zehn Jahren von einer primär defensiven Position zu einer sehr dynamischen und multifunktionalen Rolle entwickelt. Moderne Rechtsverteidiger sind nicht nur für ihre defensive Stabilität bekannt, sondern auch für ihre Fähigkeit, das Spiel aufzubauen, offensive Aktionen zu unterstützen und Tore vorzubereiten oder sogar selbst zu erzielen.

Diese Entwicklungen zeigen sich auch in den gestiegenen Anforderungen an technische, physische und taktische Fähigkeiten. Diese tiefgreifende Transformation macht den Außenverteidiger - Gleiches gilt analog auch für Linksverteidiger - zu einer der vielseitigsten und anspruchsvollsten Positionen im modernen Fußball, wie auch die Daten belegen.

Deutlich mehr Assists und Tore von Rechtsverteidigern

In der vergangenen Dekade ist die Beteiligung von Rechtsverteidigern an Assists - je nach Auslegung der Rolle - um 200 bis 300 Prozent gestiegen, die Zahl der von Spielern dieser Position erzielten Tore um 200 Prozent. Gerade am vergangenen Sonnabend ebnete Carvajal mit seinem Kopfballtreffer Real Madrid den Weg zum 15. Champions-League-Titel. Doch auch in puncto Laufleistung (plus 25 bis 33 Prozent), der Zahl der gespielten Pässe (50 bis 67 Prozent) und der Zweikampfquote (10 bis 15 Prozent).

Es sind Anforderungen, die Kimmich - speziell durch seine Sonderschichten - erfüllt. Nagelsmann nutzt das Potenzial des 29-Jährigen auf der Rechtsverteidigerposition, um seine Fähigkeiten in einem breiteren Kontext zu nutzen. Seine "Umschulung" war sowohl eine taktische als auch eine strategische Entscheidung, um die Flexibilität und Dynamik der Mannschaft zu erhöhen.

Kimmich bringt für einen Weltklasse-Rechtsverteidiger alles mit

In defensiver Hinsicht ist er mit seiner Spielintelligenz und Antizipationsfähigkeit oft in der Lage, gefährliche Situationen zu entschärfen, bevor sie zu echten Bedrohungen werden. Eine seiner Aufgaben in der Offensive, die er von seinem Spiel im Mittelfeldzentrum adaptieren kann, ist es, den Ball aus der Verteidigung ins Mittelfeld zu tragen und Angriffe zu initiieren. Dies erfordert nicht nur technische Fähigkeiten, sondern auch ein gutes Verständnis für Raum und Zeit.

Zugute kommen Kimmich seine Präzision und Übersicht, die es ihm ermöglichen, schwierige Pässe zu spielen und das Spielgeschehen (mit) zu lenken. Er versteht es, Lücken in der gegnerischen Abwehr zu finden und seine Mitspieler in aussichtsreiche Positionen zu bringen - auch in Unterstützung der Spieler im Mittelfeldzentrum.

Kimmichs Passgenauigkeit und seine Fähigkeit, sowohl kurze als auch lange Pässe präzise zu spielen, tragen entscheidend zur Effizienz und einem flüssigen Spiel des Teams bei. Mit Läufen entlang der Außenbahn kann er zudem Räume schaffen und für zusätzliche Breite und Tiefe im Spiel sorgen.

Starke Werte in DFB-Testpielen

"Bei der Nationalmannschaft muss man sich unterordnen. Da ist man ein Diener für sein Land. Kimmich ist das", sagte Nagelsmann über seinen Rechtsverteidiger mit Spielmacher- und Führungsqualitäten. Dass Kimmich diese Rolle angenommen hat, zeigte sich auch in den Testspielen gegen Frankreich (2:0) und die Niederlande (2:1).

Da übertrumpfte er viele Werte aus der Saison beim FC Bayern - egal ob bei den abgespulten Gesamtkilometern, den Sprints, den intensiven Läufen oder den erfolgreiche Pässen. Es spricht für Kimmichs Umstell- und Anpassungsfähigkeit. Und seine Klarheit in diesen Tagen.