Das Symbolfoto zeigt eine Spritze vor dem Wort Doping.

110. Tour de France Der Doping-Verdacht fährt weiter mit

Stand: 01.07.2023 18:41 Uhr

Die Tour de France ist in ihre 110. Ausgabe gestartet. Nach turbulenten Jahren mit riesigen Doping-Skandalen vermitteln Vertreter der Szene gerne den Eindruck, man sei in der Normalität eines sauberen Sports angekommen. Doch davon ist der Radsport weit entfernt, wie eine Bestandsaufnahme der ARD-Dopingredaktion zeigt.

Von Hajo Seppelt, Sebastian Münster, Peter Wozny und Sebastian Krause

Phil Bauhaus blickte am Start der Slowenien-Rundfahrt vor einigen Tagen genervt in die Kamera. Das Thema Doping sei "grundsätzlich natürlich immer doof", sagte der deutsche Fahrer des Teams Bahrain Victorious: "Das kommt immer auf zur Tour de France, sonst natürlich nie." Er bezeichnete diesen Umstand sarkastisch als "komischen Zufall".   

Doping bleibt ein Reizthema in der Szene. Von einer Rückkehr zur Normalität, von der Funktionäre, Sponsoren und auch Fahrer nach den riesigen Doping-Skandalen rund um die Jahrtausendwende gerne sprechen, ist der Radsport weit entfernt.  

WADA-Statistik: 1.522 Dopingfälle in acht Jahren

Noch immer laufen in mehreren Ländern Ermittlungen, noch immer beschäftigen Spitzenteams hochbelastete Akteure. Noch immer funktioniert die Zusammenarbeit zwischen Anti-Doping-Einrichtungen und staatlichen Behörden offenbar nur unzureichend. Und noch immer liefert der Radsport Hunderte Dopingfälle. Auffällig: Nur beim bedeutendsten Rennen überhaupt scheint alles sauber zu sein. Seit 2015, seit Luca Paolini nach einem positiven Test auf Kokain abreisen musste, hat es bei der Tour de France keinen einzigen offiziellen Dopingfall mehr gegeben.

Die Welt-Anti-Doping-Agentur WADA vermerkt in ihren Listen - nur die von 2013 bis 2020 sind derzeit öffentlich einsehbar - penibel offizielle Dopingfälle. Im Radsport sind es in diesem Zeitraum insgesamt: 1.522. Selbst den "Spitzenreiter" lässt der Radsport de facto hinter sich: In der Leichtathletik werden zwar 1.757 sogenannte ADRVs (Anti-Doping-Regelverstöße) verzeichnet, dort wird aber auch häufiger getestet. Die Quote der Ertappten ist im Radsport (0,85 Prozent bei 178.167 Tests) höher als in der Leichtathletik (0,77 Prozent bei 229.307 Tests). Wie realistisch ist es also angesichts solcher Zahlen, dass ausgerechnet beim größten Straßenradrennen der Welt, der Tour de France, niemand dopt?  

An hoher Abschreckung durch ein effektives Anti-Doping-System liegt es offensichtlich nicht, dass seit acht Jahren bei der "großen Schleife" niemand mehr aufflog. Beispiel Slowenien: Bei einem Besuch der Nationalen Anti-Doping-Agentur des kleinen Landes, das seit dem Aufstieg der Überflieger Tadej Pogačar und Primož Roglič im Zentrum vieler Verdächtigungen steht, offenbarten sich der ARD-Dopingredaktion bemerkenswerte Defizite. 

Sloweniens NADA-Chef: Doping "kommt aus dem Ausland"

Janko Dvoršak bringt als Chef der slowenischen NADA, so sollte man meinen, schon qua Amt den weltweit dominierenden Radprofis aus dem Zwei-Millonen-Einwohner-Staat und den Strukturen dahinter ein Mindestmaß an Misstrauen entgegen. Stattdessen stellt er einen merkwürdigen Persilschein aus: "Für Doping braucht es Technologie und Geld. Diese Bedingungen gibt es nicht in Slowenien. Ich glaube, das kommt hauptsächlich aus dem Ausland."

Details der "Operation Aderlass" um den Erfurter Blutdoping-Doktor Mark S. kennt er nur aus den Medien, sagt Dvoršak. Dabei führen im größten Dopingskandal der vergangenen Jahre außerhalb Russlands viele Spuren nach Slowenien. Wegen Kontakten zu den Erfurter Blutpanschern wurden unter anderem Kristjan Koren und Borut Bozic gesperrt, beides Slowenen aus dem Team Bahrain.

Milan Erzen, der aktuelle Manager der Equipe, ist ebenfalls Slowene. Er wurde von Marc S. nach dessen Festnahme in einer Vernehmung des Zolls schwer belastet. Erzen habe, so S. in seiner Aussage, reges Interesse an einer Geschäftsbeziehung sowie am Erwerb einer Maschine zur Blutaufbereitung gezeigt, erklärte ein Ermittler während der Münchner Prozesse zur "Operation Aderlass". Erzen bestreitet beides.

"Ermittlungen gehen uns nichts an"

"Die Ermittlungen sind Sache der Polizei und gehen uns nichts an. Strafverfolgung und Anti-Doping-Arbeit müssen klar getrennt sein", sagt Sloweniens oberster Doping-Bekämpfer Dvoršak - und widerspricht damit den jüngsten, investigativen Bestrebungen der WADA. Auch Amina Lanaya, Generaldirektorin des Weltverbandes UCI, hatte zuletzt die Notwendigkeit einer besseren Vernetzung mit staatlichen Stellen betont: "Für mich sind Tests nicht mehr das wichtigste Instrument im Kampf gegen Doping. Aufklärungsarbeit und Nachforschung sind es. Wir müssen Hand in Hand mit den Polizeibehörden arbeiten."

Die heimische NADA führt die slowenischen Top-Fahrer um Pogačar und Roglič nicht mal in ihrem Testpool. Dvoršak betont, für die Kontrollen sei der Weltverband und die von der UCI beauftragte Internationale Test-Agentur ITA zuständig. Dabei mahnt die WADA in ihren Testrichtlinien: "Auch wenn Athleten auf nationaler Ebene nicht im Land der nationalen Anti-Doping-Organisation trainieren, ist dennoch die NADA dafür verantwortlich, dass diese Athleten Kontrollen im Ausland unterzogen werden."

Ermittlungsstatus unklar

2021 und 2022 gab es vor beziehungsweise während der Tour de France Razzien beim Team Bahrain. Etliche Betreuer und einige der Fahrer des Rennstalls stammen aus Slowenien. Wie der Status der Ermittlungen staatlicher Behörden gegen das Team ist, ist unklar. Eurojust, die mit dem Fall vertraute Agentur der Europäischen Union für justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen, verwies an die Staatsanwaltschaft Marseille. Die wiederum wollte auf ARD-Anfrage nur bestätigen, dass in der Causa noch ermittelt werde.

Ähnlich dürftig ist die Informationslage in Spanien. Dort läuft seit Anfang 2021 die "Operacion Ilex" gegen ein mögliches neues Dopingnetzwerk. Auch hier heißt es: Die Ermittlungen dauern an. Das kasachische Pro-Tour-Team Astana suspendierte im Zuge dessen im vergangenen Jahr bereits seinen kolumbianischen Top-Star Miguel Angel Lopez. Kurz zuvor war bekannt geworden, dass Lopez in Verbindung mit den Ermittlungen der spanischen Guardia Civil steht. Der Fahrer bestreitet jegliches Fehlverhalten. 

Zu den Beschuldigten gehört auch Vicente Belda Garcia, der ehemalige Physiotherapeut des Teams Astana. Er lehnt auf ARD-Anfrage einen Kommentar zu möglichen Doping-Verstrickungen ab. Belda wird vom möglichen Drahtzieher des Netzwerks, Marcos Maynar, beschuldigt. Der Biophysiker soll nach Erkenntnissen der Ermittler in Russland und anderen Ländern verbotene Substanzen erworben und an Radsportler verkauft haben. Er war für eine Stellungnahme nicht zu erreichen.  

Hämoglobin vom Wattwurm

Ebenfalls im Visier der Ermittler ist der langjährige Kelme-Team-Manager Vicente Belda, Vater des Physiotherapeuten Vicente junior. Vicente senior stand einst in engem Kontakt zu Eufemiano Fuentes, dem Drahtzieher im größten Doping-Fall der Radsportgeschichte: der Operacion Puerto, die letztlich auch Jan Ullrich zu Fall brachte. Womöglich gibt es sie noch im Radsport, die alten Seilschaften.  

Immer neu befeuert werden die Gerüchte über "Mittel der Wahl" innerhalb des Pelotons. Zuletzt im Gespräch: eine Substanz aus dem Hämoglobin des Wattwurms, dessen Blut 40-mal mehr Sauerstoff speichern kann als das menschliche.  

Keine Tour de France ohne Doping-Verdacht - das gilt auch im Jahr 2023.

Dieses Thema im Programm: Das Erste | Sportschau | 29.06.2023 | 18:27 Uhr