Ukraines Trainer Rebrov agiert am Seitenrand.

EM-Auftaktspiel gegen Rumänien Ukraine - auf der Suche nach "modernem Fußball"

Stand: 17.06.2024 11:44 Uhr

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine überdeckt in diesen Tagen den Blick auf den EM-Teilnehmer. Dabei gibt es auch aus sportlicher Sicht einiges zu berichten: zum Beispiel über die Defensivausrichtung und offensive Superstars.

In der Ukraine ist Serhiy Rebrov immer noch Rekordtorschütze. Der heute 50-Jährige traf in 259 Spielen in der höchsten ukrainischen Liga 123 Mal, wurde dabei 1997/1998 Torschützenkönig. Heute ist Rebrov Trainer der Ukraine.

Und kaum etwas weist darauf hin, dass der 75-malige Nationalspieler in seinem ersten Fußballerleben Torjäger war, in 574 Pflichtspielen 205 Tore erzielte und in der Champions League auch gegen Bayern München, Real Madrid oder den FC Barcelona knipste.

Wenig Ballbesitz, viele Zweikämpfe

Vom Torjäger zum Toreverhinderer – als Trainer hat Rebrov die Philosophie geändert. Mit nur 11:8 Toren kam die Ukraine durch die acht Spiele der EM-Qualifikation, wurde in der starken Gruppe C Dritter hinter England und Italien.

Die Quali-Partien gegen England und Italien und auch das jüngste Testspiel gegen Deutschland dürften die taktische Richtung der Ukraine für die EM vorgeben: wenig Ballbesitz, wenig eigene Chancen, dafür schnelle Konter und viele Zweikämpfe.

Beim 0:0 Anfang Juni in Nürnberg hatte das Rebrov-Team nur 38 Prozent Ballbesitzanteile und 6:27 Torschüsse, gewann aber 60 Prozent der Zweikämpfe. In der EM-Quali überließ die Ukraine sogar Teams wie Nordmazedonien häufiger den Ball (55:45 Prozent).

Nagelsmann: "Tiefer, kompakter Block"

Bundestrainer Julian Nagelsmann lobte nach dem 0:0 den "tiefen kompakten Block des Gegners". Rebrov ließ gegen Deutschland mit einer Fünferkette spielen.

In der Defensive vereint der Coach die Premier-League-Erfahrung von Kapitän Oleksandr Zinchenko (FC Arsenal), Vitally Mykolenko (FC Everton) und Ilya Zabarnyi (Bournemouth) mit Spielern der heimischen Liga wie Yukhym Konoplya, Mykola Matvienko (beide Donezk) und Oleksandr Svatok (Dnipro). Vor der Abwehr steht mit dem 34-jährigen Taras Stepanenko ein echter Abräumer.

Rebrov: "Geschwindigkeit spielt eine große Rolle"

Trotz der defensiven Ausrichtung will sich Rebrov aber nicht auf eine Bollwerk-Taktik festlegen lassen. Nach dem 0:0 gegen Deutschland betonte der Coach, dass ihm vor allem "Fitness, Athletik und Zweikampfverhalten" wichtig seien.

Kurz vor dem Turnierstart sagt der einstige Tottenham- und West-Ham-Spieler im Trainingslager in Taunusstein: "Meine Vision ist, dass wir modernen Fußball spielen. Geschwindigkeit spielt für uns eine große Rolle."

Viele Offensivjuwelen im Team

Und es wäre auch fahrlässig, wenn der einstige Angreifer Rebrov das Offensiv-Potenzial seiner Mannschaft nicht berücksichtigen würde - zumal die ukrainischen EM-Gruppengegner Rumänien (17.06.2024, 15.00 Uhr, Radioreportage und Ticker) und die Slowakei (21.06.2024, 15.00 Uhr, Radioreportage und Ticker) nicht zwingend als Ballbesitzmonster bekannt sind und Rebrov hier taktisch kreativ sein muss. Nur gegen Belgien (26.06.2024, 18.00 Uhr, Livestream) dürfte sein Team klar die Außenseiterrolle haben.

Spanischer Torschützenkönig im Team

Offensiv haben die Ukrainer einige echte Juwelen im Kader: Mit Artem Dovbyk vom spanischen Überraschungsdritten FC Girona spielt der Torschützenkönig der "La Liga" in Blau-Gelb. Unterstützt wird der Mittelstürmer und 24-Tore-Mann von einer schnellen und technisch versierten Flügelzange.

Gironas Artem Dovbyk freut sich mit Teamkollege Ivan Martin über seinen Treffer gegen Cadiz

Gironas Artem Dovbyk (r.) freut sich mit Teamkollege Ivan Martin über seinen Treffer gegen Cadiz

Linksaußen Mykhaylo Mudryk vom FC Chelsea und Dobvyk-Teamkollege Viktor Tsygankov auf rechts können jede Abwehr in Verlegenheit bringen. In der Regel spielen sie invers, also mit ihrem starken Fuß auf der Innenseite, um nach innen ziehen und abschließen zu können.

Yarmolenko und Yaremchuk als Edel-Backups

Als Edel-Backup auf den Außen stehen der bereits 34-jährige ehemalige Dortmunder Andrey Yarmolenko und in der Sturmspitze Roman Yaremchuk parat. Der 28-Jährige vom FC Valencia hat unter Rebrov zumeist die Joker-Rolle inne.

Roman Yaremchuk aus der Ukraine jubelt

Roman Yaremchuk traf in den Playoffs entscheidend.

Wie wichtig der 48-malige Nationalspieler aber sein kann, zeigte er im den Quali-Playoffs. Im Halbfinale traf er gegen Bosnien-Herzegowina, als er beim Stand von 0:1 eingewechselt wurde, das 1:1 schoss (85.) und das 2:1 vorbereitete (88.).

Flexibilität in den Playoffs

In den Playoffs gegen Bosnien und im Finale gegen Island zeigte das Rebrov-Team seine Flexibilität. In beiden Spielen geriet die Ukraine 0:1 in Rückstand. In beiden Spielen übernahmen Dovbyk, Mudryk und Co. dann das Zepter, hatten mehr Ballbesitzanteile und mehr Abschlüsse – und drehten das Spiel.

Krieg überschattet alles

Das sorgte nicht nur in der kriegsgebeutelten Ukraine, sondern auch bei den vielen Geflüchteten in Deutschland für Jubel. In Kriegszeiten geben die Siege der Ukraine dem Land Hoffnung. Selbst ein öffentliches Training wie in diesen Tagen in Wiesbaden kann da zu einem emotionalen Höhepunkt werden.

Das weiß auch Kapitän Zinchenko: "Jeden von uns berührt das. Wir brauchen keine Extra-Motivation", so der 27-Jährige: "Da sind unsere Fans. Und da sind unsere Soldaten, die für unsere Freiheit ihr Leben riskieren. Dafür, dass wir Fußball spielen dürfen. Jedes Mal, wenn wir das Trikot mit dem Ukraine-Emblem anziehen ist das für uns eine doppelte, wenn nicht gar dreifache Motivation."

Motivation und Pathos

Und auch Rebrov hat viel Pathos in der Stimme, wenn er über die Bedeutung der EM für sein Team und sein Land spricht: "Jeder in meinem Team hat verstanden, was wir in diesen Kriegszeiten für eine Verantwortung für unser Land haben. Wenn ich meine Spieler anschaue, kann ich das in jedem Gesicht sehen. Wir sind sehr dankbar."

Rebrov als Spieler bis ins WM-Viertelfinale

Jetzt hofft Rebrov mit seinem Team auf einen EM-Auftaktsieg gegen Rumänien. Es wäre der erste Sieg für Rebrov als Trainer bei einem großen Turnier. Als Spieler schaffte er es mit der Ukraine bei der WM 2006 sensationell bis ins Viertelfinale, schoss im Turnier sogar selbst ein Tor. Als Trainer versucht er es nun bei der EM 2024 mit Defensivtaktik. Das Achtelfinale wäre schon ein großer Erfolg.