Vfl Wolfsburg Trainer Tommy Stroot am Spielfeldrand.
interview

Wolfsburgs Meistertrainer Tommy Stroot "Deutschland wird extrem positiv wahrgenommen"

Stand: 19.07.2022 10:32 Uhr

Tommy Stroot hat mit dem FC Twente in den Niederlanden und nun auch mit dem VfL Wolfsburg als Trainer große Erfolge gefeiert. Die halbe Mannschaft des 33-Jährigen ist bei der EM aktiv. Und der gebürtige Niedersachse verfolgte einige Spiele live vor Ort.

Herr Stroot, bei dieser EM sind in der Vorrunde 25 Tore mehr gefallen als vor fünf Jahren. Wie gefällt Ihnen das Offensivspektakel?

Tommy Stroot: Extrem gut! Es gab sehr unterschiedliche Facetten, aber gerade das 8:0 von England gegen Norwegen war wirklich ein Spektakel. Es ist verrückt zu beobachten, wie Teams nach Rückschlägen zusammenbrechen. Das war auch bei der Schweiz gegen die Niederlande (1:4) so, als die Schweizerinnen in der Schlussphase fast im Sekundentakt Chancen zugelassen haben.

Was sagen die vielen Tore über das Niveau beim Turnier aus?

Stroot: Die Qualität ist insgesamt nach oben gegangen. Es fällt auf, dass viel öfter die Lösung mit dem Ball am Fuß gesucht wird. Das Verteidigen und das Lauern auf Umschaltmomente steht nicht mehr so im Vordergrund. Das tut dem Frauenfußball gut. Aber es gab eben auch diese verrückten Ausschläge.

Wie erklären Sie sich diese Ausschläge?

Stroot: Da gibt es nicht die eine Erklärung, das ist komplett unterschiedlich. Die Schweiz hätte bis zur 83. Minute noch weiterkommen können. Dann muss Lia Wälti verletzt raus und nach dem 2:1 für Holland war die Chance aufs Viertelfinale praktisch dahin. England hat sich gegen Norwegen einfach in einen Flow gespielt. Und auch wenn die Norwegerinnen natürlich einige Weltklasse-Spielerinnen in ihren Reihen haben, ist die Situation bei der Nationalmannschaft, wo es nicht viel Zeit für die Findung eines Teams gibt, nicht mit der im Club zu vergleichen. Wenn ein Team nicht so gefestigt ist, kann es leichter Situationen geben, die einen richtig überfahren.

Sind die Nationen trotzdem insgesamt näher zusammengerückt?

Stroot: Ich denke, dass fast alle Top-Nationen noch mal einen Schritt nach vorn gemacht haben. Das zeigt ja auch die besondere Situation, dass es vor dem Turnier nicht den einen großen Favoriten gegeben hat, sondern dass da gleich eine Handvoll Teams zu nennen waren. Da macht sich auf jeden Fall auch bemerkbar, dass sich im Liga-Alltag vieles verbessert hat. In England, Italien und Spanien, aber auch in Deutschland - oder in den Niederlanden. In Sachen Professionalisierung gibt es auch dort einen riesigen Unterschied im Vergleich zu den vergangenen fünf oder zehn Jahren.

Die "New York Times" hat das 8:0 zum Anlass genommen, die Qualität von einigen Trainerinnen und Trainern infrage zu stellen. Die Rede war von Coaching-Stil ohne Substanz. Gibt es da Nachholbedarf?

Stroot: Das ist zumindest mal eine mutige These. Ich glaube, dass man da nicht verallgemeinern darf. Zumal es ja ganz unterschiedliche Vorstellungen und Herangehensweisen gibt. In Skandinavien wird "landestypisch" im 4-4-2 gespielt. Die Italienerinnen haben vor zehn Jahren hauptsächlich verteidigt und wählen jetzt viel mehr spielerische Ansätze.

Die Frage ist schwierig zu beantworten. Viele Länder haben ihre Trainerstäbe mittlerweile breiter aufgestellt und sind gut organisiert. Bei anderen geht es noch nicht so professionell zu wie in den Vereinen.

Sie sind bereits bei der EM vor Ort gewesen, VfL-Manger Ralf Kellermann ebenfalls, nun auch noch Ihre Co-Trainerin Kim Kulig. Welche Rolle spielt es, möglichst viele Spiele und Spielerinnen vor Ort zu verfolgen?

Stroot: Nicht nur, wir drei - praktisch der ganze Trainerstab ist schon vor Ort gewesen. Mir ist es wichtig, unseren Spielerinnen auf diese Weise den Respekt für ihre Leistungen entgegenzubringen. Sie sammeln bei der EM ganz besondere Eindrücke und haben Erlebnisse, die wir mit ihnen teilen wollen. Nach den Spielen können wir uns kurz unterhalten. Aber die Spielerinnen wissen auch, dass sie immer schreiben oder anrufen können, wenn sie Gesprächsbedarf haben.

Sie sind während der Euro 2022 auch als Experte gefragt. Waren bereits beim niederländischen Fernsehen zu Gast, jetzt beim Viertelfinale gegen Österreich bei der Sportschau. Wie gefällt Ihnen diese Rolle?

Stroot: Das ist für mich eine neue Erfahrung. Aber das lässt sich mit meiner Arbeit gerade sehr gut kombinieren. Und ich liebe Herausforderungen, deshalb nehme ich das gern mit. Und wenn andere Leuten denken, dass es interessant sein könnte, was ich zu sagen habe, empfinde ich das als positives Feedback für meine Arbeit.

Die Niederlande sind als Titelverteidiger nach England gekommen. Wie beurteilen Sie die Leistung des Teams bisher?

Stroot: Ich verfolge die Entwicklung mit großer Neugier. So ein Wechsel von Trainerin Sarina Wiegman, die das Team 2017 ja zum Titel geführt hat, hin zu Mark Parsons ist immer interessant. Das kann Zeit brauchen, wovon man in der Nationalmannschaft wenig hat.

Das Viertelfinale ist erreicht, die Qualität ist noch da. Es wird spannend, wie das Team jetzt mit dem Druck im Spiel gegen Frankreich umgeht. Die Niederlande gehören nach dem Turnierverlauf nicht zu den direkten Favoriten, aber sie bleiben sehr gefährlich.

Sarina Wiegman, Trainerin der englischen Frauen-Nationalmannschaft schaut nachdenklich.

Sarina Wiegman, mit den Niederlanden 2017 Europameister, coacht jetzt die Engländerinnen.

Und wie wird die deutsche Mannschaft von Martina Voss-Tecklenburg im Nachbarland wahrgenommen?

Stroot: Ich war bei Deutschlands Auftaktspiel der Analyst im holländischen Fernsehen. Da war ich der einzige, der auf einen deutschen Sieg gegen Dänemark getippt hat. Und danach wurde Deutschland auf einmal als Turnierfavorit genannt. Die Mannschaft hat in der Gruppenphase einige Ausrufezeichen gesetzt. Der deutsche Fußball wird nun extrem positiv wahrgenommen.

Bei der EM ist gerade einmal die Vorrunde vorbei, in den Vereinen beginnt schon die Vorbereitung für die neue Saison. Wie funktioniert das bei Ihnen, wenn doch ein großer und bedeutender Teil des Teams gar nicht da ist?

Stroot: Mir ist aufgefallen, dass wir mit unserem Start am 1. Juli eines der ersten Teams überhaupt in Deutschland waren. Aber die Pause zwischen dem letzten Bundesliga-Spiel im Mai und dem ersten Spieltag Mitte September ist sehr lang. Wir planen deshalb in Blöcken. Mit der kleinen Trainingsgruppe können wir gerade sehr intensiv arbeiten, in die Einzelanalyse gehen und viel Feedback geben. Nach dem EM-Finale haben alle noch mal zwei Wochen frei - und danach geht es dann mit dem ganzen Team richtig los.

Schürt die EM bei Ihnen die Vorfreude auf die kommende Saison? In Merle Frohms, Marina Hegering und Jule Brand sind unter Ihren Neuzugängen auch drei deutsche Nationalspielerinnen, die gerade in England für Aufsehen sorgen.

Stroot: Absolut! Es ist spannend, die Spielerinnen jetzt noch mal in einem anderen Umfeld zu sehen. Gerade Marina, hinter deren Einsatz ja ein großes Fragezeichen stand, weil sie in der vergangenen Saison so lange verletzt gefehlt hat. Aber darüber spricht jetzt niemand mehr, weil alle ihre große Qualität und ihre Mentalität sehen. Es schön zu sehen, welche Prozesse da greifen.

Aber es gibt teilweise unterschiedliche Rollen - ich schaue mir auch eine Alexandra Popp ganz genau an. Sie hat ja bei uns zuletzt eher auf der Sechs gespielt. Und es ist interessant, sie jetzt in der Nationalmannschaft ganz vorn drin zu sehen. Wir freuen uns darauf, in vier Wochen alle unsere Nationalspielerinnen in Wolfsburg zu haben.

Das Interview führte Florian Neuhauss

Dieses Thema im Programm: Das Erste | Sportschau | 15.07.2022 | 20:15 Uhr