Die norwegische Fußball-Nationalspielerin Ada Hegerberg (l.) und Trainer Martin Sjögren gehen in entgegengesetzte Richtungen.
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Nach EM-Aus Norwegens brutale Wahrheit - Fußballnation im Sinkflug

Stand: 16.07.2022 14:00 Uhr

Nach dem zweiten Scheitern in der Vorrunde einer Fußball-Europameisterschaft fordert die norwegische Starstürmerin Ada Hegerberg eine schonungslose Analyse. Trainer Martin Sjögren steht vor dem Aus.

Von Ines Bellinger

Es war ein Bild des Jammers, das Ada Hegerberg nach dem 0:1 gegen Österreich im Stadion von Brighton & Hove Albion bot: Mit entrücktem Blick lag sie in den Armen ihrer Mutter Gerd Stolsmo und ließ sich trösten. So viel Hoffnung hatte Norwegen in die Rückkehr seiner Vorzeigefußballerin in die Nationalmannschaft gesetzt. Umso größer war die Enttäuschung nach dem besiegelten Turnier-Aus.

Zum zweiten Mal nach 2017 schied Norwegen bereits nach der Vorrunde einer EM aus - vor fünf Jahren in den Niederlanden sogar ohne Punkt und Tor. Dieses Mal stand ein 4:1 gegen Nordirland auf der Habenseite, aber eben auch ein 0:8-Debakel gegen Gastgeber England, Norwegens bislang höchste Länderspiel-Pleite. Nach den großen Erfolgen der Vergangenheit scheinen die Skandinavierinnen maximal noch zur zweiten Reihe im internationalen Fußball zu gehören.

"Ganz Norwegens Fiasko" titelte das "Dagbladet" nach der unsanften Landung gegen Österreich. Es reiche aber nicht, Trainer Martin Sjögren die Schuld zu geben, schrieb das Blatt. Etliche Medien und Fußballexperten in Norwegen fordern die Entlassung des Schweden, der schon das Desaster vor fünf Jahren zu verantworten hatte, ehe er bei der WM 2019 in Frankreich mit der "Kvinnelandslaget" das Viertelfinale erreichte.

Sjögrens Vertrag läuft bis nach der WM

Sjögrens Vertrag endet nach der Weltmeisterschaft im kommenden Jahr in Australien und Neuseeland. Er sagte einen Tag nach dem EM-Aus, er sei "sehr motiviert" weiterzumachen. Zu Debatten um seine Ablösung meinte er lapidar: "Ich gebe sehr wenig darauf, was sogenannte Experten oder andere Außenstehende über meine Zukunft sagen. Tatsächlich ist es mir völlig egal. Ich bin sicher, dass diese Gruppe wieder aufstehen wird." Er habe stets versucht, einen guten Job zu machen. Was aber definitiv misslang.

Norwegen wurde in der FIFA-Weltrangliste vor dem Turnier auf Rang elf geführt, Österreich auf Platz 21. Gegen den vermeintlichen Außenseiter brachten es die Skandinavierinnen in 90 Minuten auf gerade einmal vier Torschüsse.

Individualisten funktionieren nicht als Team

Es war beinahe unwirklich, wie das norwegische Team schon gegen England quasi in zwei Teile zerbrach, die völlig losgelöst voneinander ihre Spiele zu bestreiten schienen. Auf der einen Seite die hochgehandelten Offensivkräfte mit Hegerberg (Olympique Lyon), Guro Reiten (FC Chelsea), Caroline Graham Hansen und Ingrid Engen (beide FC Barelona). Auf der anderen Seite die völlig überforderte Defensive um Kapitänin Maren Mjelde. Graham Hansen und Hegerberg spielten aneinander vorbei statt miteinander, Engen machte technische Fehler, wie sie sie wohl in ihren gesamten zwei Jahren beim VfL Wolfsburg nicht fabriziert hatte.

Graham Hansen: "Ein Schatten unserer selbst"

"Wir waren ein Schatten unserer selbst, Wir haben es nicht verdient weiterzukommen", sagte Graham Hansen, die gegen Österreich mit einer gebrochenen linken Hand spielte. Hegerberg, die nach der EM 2017 im Streit um mehr Gleichberechtigung die Nationalmannschaft fast fünf Jahre lang boykottiert hatte, forderte eine schonungslose Analyse: "Jeder hat hier eine Verantwortung, auch ich. Wir müssen alles, was in den letzten Wochen passiert ist, mit brutaler Ehrlichkeit auswerten, um uns davon zu erholen."

Fast alle Topspielerinnen ins Ausland abgewandert

Zur brutalen Wahrheit dürfte gehören, dass Norwegen den Vorsprung verspielt hat, von dem die Pionierinnen im Frauenfußball jahrzehntelang gezehrt haben. Fast alle Topspielerinnen sind ins Ausland abgewandert. Gegen Österreich standen in Torhüterin Guro Pettersen (Vålerenga Fotball), Tuva Hansen und Guro Bergsvand (beide BK Brann Kvinner) nur drei Spielerinnen in der Startelf, die im eigenen Land kicken.

Wird Hege Riise die neue Chefin?

Es ist nun die Aufgabe von Verbandspräsidentin Lise Klaveness, die Weichen in die richtige Richtung zu stellen. Ihre erste Maßnahme könnte sein, sich von Sjögren zu trennen und Norwegens U-19-Trainerin Hege Riise zur Chefin zu machen. Die 52-Jährige gilt als eine der besten Fußballerinnen, die Norwegen hervorgebracht hat, und steht für eine Zeit, in der im Fußball kein Weg an den Norwegerinnen vorbeiführte. Die Rekordnationalspielerin (188 Länderspiele) führte die "Gresshoppene" zum zweiten EM-Titel (1993), zur Weltmeisterschaft (1995) und zum Olympiasieg (2000).

Riise assistierte Sundhage und betreute England

Auch als Trainerin hat sich Riise internationales Rüstzeug geholt: Sie assistierte der großen Pia Sundhage im US-Team - und sie trug ein kleines Stück zur englischen Erfolgsgeschichte bei. Als Interimstrainerin überbrückte sie 2021 die Zeit zwischen dem Abgang von Phil Neville und dem Amtsantritt seiner Nachfolgerin Sarina Wiegman. Das britische Olympia-Team führte sie im vergangenen Jahr in Tokio ins Viertelfinale. Nun könnte sie auch für den Aufbruch in eine neue Zeit in Norwegen stehen. Die U-19 hat sie gerade erstmals seit 2011 wieder in ein EM-Finale gelotst (1:2 gegen Spanien).

Die norwegische Fußball-Trainerin Hege Riise

Führte Norwegens U19 ins EM-Finale: Hege Riise.

Dieses Thema im Programm: Das Erste | Sportschau | 15.07.2022 | 20:15 Uhr