Jérôme Boateng im Trikot des FC Bayern München beim Legendenspiel gegen Borussia Dortmund

Mögliche Rückkehr zu den Bayern Jerome Boateng - "Nicht Bayern-like" oder "erstklassiger Spieler"?

Stand: 02.10.2023 19:20 Uhr

In akuter Personalnot testet der FC Bayern einen alten Bekannten: Jérôme Boateng könnte einen neuen Vertrag erhalten. Nicht nur sportliche Gründe sprechen gegen eine Verpflichtung. Doch der 35-Jährige hat auch Argumente auf seiner Seite.

Von Raphael Weiss

Wenige Tage nachdem Trainer Thomas Tuchel alle drei Innenverteidiger für das DFB-Pokalspiel gegen Preußen Münster weggebrochen waren, kamen Gerüchte über eine Rückholaktion von Jérôme Boateng auf. Anfangs dachten wohl die meisten Fans, dass nicht viel an diesen Berichten dran sein könnte. Denn trotz der langen FC-Bayern-Vergangenheit und den vielen Erfolgen, die man gemeinsam holte, sprechen die meisten Argumente derzeit gegen eine Verpflichtung. Doch längst nicht alle.

Tuchel: "Türen stehen immer auf"

Nun trainiert Boateng also seit Sonntag beim FC Bayern. Spätestens Ende der Woche soll es eine Entscheidung geben, kündigte Sportdirektor Christoph Freund vor dem Abflug zum Champions-League-Spiel in Kopenhagen (FC Kopenhagen gegen FC Bayern am Dienstag, 3. Oktober, in der Radioreportage) an. "Aktuell ist es so, dass er mittrainiert. Er wohnt ja auch in München. Wir werden noch einmal Gespräche führen und dann werden wir schauen, was für alle Seiten die beste Lösung ist", so Freund und kündigte an: "In erster Linie spielen sportliche Überlegungen eine Rolle. Es ist so, dass wir noch vor einer Woche drei Innenverteidiger verletzt hatten. Da macht man sich Gedanken: Was kann passieren in den nächsten Wochen, was kann passieren bis Winter. Damit haben wir uns auseinandergesetzt."

Auf die Personalie angesprochen, sagte Thomas Tuchel vor dem Champions-League-Gruppenspiel beim FC Kopenhagen: "Es gilt die Unschuldsvermutung, wenn ein Verfahren ausgesetzt ist. Weil das auch so ist, haben wir als Fußball-Klub das Recht, Fußball-Entscheidungen zu treffen", warb er für Bayerns Vorgehen. Es müsse einfach drin sein, "einen verdienten Spieler" mittrainieren zu lassen, befand der Bayern-Coach: "Da stehen die Türen immer auf."

Boatengs Qualitäten: Gute Spieleröffnung, hohes Tempo

Worüber die Münchner also in "erster Linie" nachdenken: Boateng kennt den FC Bayern wie wenige aktive Spieler. Zehn Jahre lang spielte er in München, gewann neunmal die Deutsche Meisterschaft, fünfmal den DFB-Pokal und zweimal die Champions League. Er prägte in dieser erfolgreichen Phase diesen Verein, so wie dieser ihn prägte. "Er war ein erstklassiger Spieler, hat sensationell gespielt. Wenn er auf dem Niveau ist, wie ich ihn kenne, kann er Bayern München helfen", sagte der langjährige FC-Bayern-Co-Trainer Hermann Gerland am Sonntag in Blickpunkt Sport.

Zudem waren seine großen Stärken damals Qualitäten, die Tuchel aktuell in seiner Verteidigung beizeiten vermisst: Boateng war einer der schnellsten Innenverteidiger in der Bundesliga-Geschichte und konnte zielgenaue, weite Pässe schlagen. Eine Fähigkeit, die den Münchnern in dieser Saison abhandengekommen ist.

Eklatante Schwächen in der FC-Bayern-Verteidigung

Als Boateng den FC Bayern vor etwas mehr als zwei Jahren verließ, hatte Trainer Julian Nagelsmann dennoch keine Verwendung mehr für den damals 32-Jährigen. Dayot Upamecano war gerade an die Isar gewechselt und gesellte sich zu einer illustren Runde: Die polyvalenten Lucas Hernández und Benjamin Pavard, dazu Niklas Süle und Tanguy Nianzou – die Innenverteidigung der Münchner schien auf Jahre hinweg aufgestellt zu sein. Für Boateng war die Zeit in München abgelaufen.

Doch zwei Jahre später ist von diesem Gerüst nur noch Upamecano in München. Nianzou konnte sich nie durchsetzen, Süle wurde als zu schlecht befunden, Pavard und Hernández wollten ihrerseits nicht mehr für den FC Bayern spielen. Und so ist der Abwehrverbund der Münchner derzeit nicht nur personell äußerst dünn besetzt, sondern zeigt sich während dieser zwei Jahre als äußerst fehleranfällig. Zuletzt musste Trainer Thomas Tuchel das gegen Leipzig beobachten, als Upamecano und der wegen seiner Zuverlässigkeit verpflichtete Min-jae Kim patzten. Vielleicht lässt sich so begründen, dass die Münchner Verantwortlichen, die Zeit ein wenig zurückdrehen wollen. Boateng ist der einzige ehemalige Verteidiger, der aktuell für dieses Projekt zu haben ist.

Boateng in Lyon: Reibereien und zuletzt kaum Einsatzzeiten

Doch wer sich nun direkt in eine Zeit zurück träumt, in der der FC Bayern nur 17 Gegentore in einer Saison kassierten (2015/16), dürfte ein böses Erwachen haben. Diesen Bestwert wird das aktuelle Team schon zur Saison-Halbzeit erreichen, sollte es im selben Rhythmus Treffer kassieren wie bisher. In Boatengs letzter Saison in München kassierte der Rekordmeister 44 Gegentore – Negativrekord in diesem Jahrhundert. Zudem ist Boateng, der im Anschluss daran als nicht mehr gut genug für den FC Bayern befunden wurde, jetzt 35 Jahre alt. Und auch in seinen besten Zeiten war Boateng immer wieder für Fehler bekannt – und leistete sich auch beim FC Bayern einige Fehltritte, weshalb Uli Hoeneß Boateng schon 2019 "als Freund" riet, "sich einen neuen Verein zu suchen".

Boateng pendelte bei seinem letzten Arbeitgeber zwischen Bank und Tribüne hin- und her. Auf dem Platz sah man ihn nur selten. Im Jahr 2023 kam er bislang auf 136 Spielminuten. An Lyon Eigengewächs Sinaly Diomandé (21) und Leipzig-Neuzugang Castello Lukeba (20) gab es kein Vorbeikommen. Zudem gab es schwankende Leistungen, ein hohes Gehalt, Reibereien mit Mitspielern und Trainern: Die Star-Verpflichtung Boateng wurde zum Problem und so kam Lyon zu demselben Schluss wie der FC Bayern 2021 und ließ ihn ablösefrei ziehen. Einen neuen Verein fand er anschließend nicht mehr.

Anklage wegen Körperverletzung und Beleidigung

Doch es gibt eben auch die nicht-sportlichen Aspekte. Neben dem Fußballplatz lief es für Boateng in den vergangenen Jahren noch deutlich schlechter. Gegen ihn läuft ein Verfahren wegen Körperverletzung in zwei Fällen. Ihm wird vorgeworfen, seine ehemalige Partnerin und Mutter seiner Zwillinge im Juli 2018 geschlagen, verletzt und beleidigt zu haben. In zwei Instanzen ist er verurteilt worden. Vor einer Woche wurde die Verurteilung zu 1,2 Millionen Euro Schadensersatz wegen Verfahrensfehlern aufgehoben. Ein neuer Gerichtstermin wird wohl nicht mehr in diesem Jahr stattfinden. Bis dahin gilt Boateng juristisch als unschuldig.

"Gegen die Privatperson gibt es ein Verfahren. Das ist aktuell ausgesetzt, darum ist es seine private Geschichte. Und darum ist das aktuell auch kein Thema für uns", sagte Freund am Montag und bezeichnet Boateng als "angenehmen Mann, der auch gut in der Mannschaft angekommen ist." Bei Teilen der Fans ist das anders. Schon beim FC-Bayern-Legendenspiel gegen Borussia Dortmund zum zehnjährigen Jubiläum des Champions-League-Finales in Wembley lief Boateng im FC-Bayern-Dress auf. Dafür erntete der Verein viel Kritik. Dass das negative Echo bei einer tatsächlichen Verpflichtung anders ausfallen würde, ist zumindest zu bezweifeln.

Freund: "Es gilt die Unschuldsvermutung"

"Jeder kann seine eigene Meinung haben, aber es gilt die Unschuldsvermutung", sagte Freund dazu. Entscheidend sei daher, was für den FC Bayern sportlich am besten sei. Der Verein, der nach der turbulenten vergangenen Saison nach Ruhe lechzt, würde sich mit dieser Verpflichtung eine ganze Palette an neuen Problemen an die Säbener Straße holen, die sich schließlich auch auf die sportlichen Bereiche auswirken könnten.

Dass sich die Münchner nun dennoch auf dieses Projekt, das auch sportlich risikobehaftet ist, einlassen könnten, zeigt, wie groß die Not und der Nachholbedarf, die diese Transferperiode hinterlassen hat, ist. Und wie tief der Schock aus dem Pokalspiel gegen Münster sitzt. "Sie haben sich zu dünn aufgestellt", monierte der ehemalige FC-Bayern-Verteidiger Markus Babbel in Blickpunkt Sport: "Du hattest genügend Zeit, einen optimalen Kader zusammenzustellen. Das ist enttäuschend, das ist nicht Bayern-like. Normalerweise haben sie ja immer diese Weitsicht." Ob Boateng jetzt die Last ein wenig lindern kann, oder die Probleme in München vielleicht sogar vergrößert, bleibt abzuwarten.

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Quelle: BR24Sport 02.10.2023 - 18:30 Uhr