Doping bei Paralympics Dopingverdächtige russische Paralympioniken noch immer ungestraft

Stand: 07.03.2022 06:00 Uhr

Dutzende russische Dopingverdachtsfälle von den Paralympics 2014 in Sotschi bleiben ungeklärt. Es geht um dieselbe Substanz, die bei der Eiskunstläuferin Kamila Walijewa nachgewiesen wurde. Die Leidtragenden: ausgerechnet Sportler aus der Ukraine.

Von ARD-Dopingexperte Hajo Seppelt, Nick Butler, Jörg Winterfeldt

In einem Rennen nach dem anderen kämpften ukrainische und russische Paralympioniken vor dem Hintergrund eines bewaffneten Konfliktes um Gold. Nicht 2022 - als das Internationale Paralympische Komitee (IPC) angesichts der heftigen Kritik schließlich umschwenkte und Russlands Teilnahme an den Paralympics in Peking mit Verspätung doch noch untersagte - sondern 2014, in den Bergen von Sotschi.

Nur wenige Tage nach der russischen Annexion der Krim teilten sich Russland und die Ukraine in 22 verschiedenen Langlauf- und Biathlonwettbewerben das Podium. Es wurde als eine Demonstration des sportlichen Wettkampfs im Angesicht der Widrigkeiten gefeiert.

Betrugsverdacht bei 21 paralympischen Medaillen

Acht Jahre sind seither vergangen, doch noch immer sind diverse Betrugsfälle nicht aufgeklärt. Und das, obwohl die ARD-Dopingredaktion einen staatlich geförderten Dopingskandal aufgedeckt hat, bei dem sowohl bei den Olympischen als auch bei den Paralympischen Spielen im offiziellen Labor dopingpositive Urinproben gegen saubere ausgetauscht worden waren.

Der von der Welt-Anti-Doping-Agentur in Auftrag gegebene McLaren-Report kam zu dem Schluss, dass bei sechs Gewinnern von 21 paralympischen Medaillen in Sotschi Urinproben manipuliert worden waren. Unter den Verdächtigen befand sich auch Roman Petuschkow, der bei den Paralympics-Heimspielen sechs Mal Gold abgeräumt hatte.

Das IPC sanktionierte zunächst entschlossen, wesentlich entschlossener als das halbherzig handelnde IOC. Es untersagte allen Russen die Teilnahme an den Spielen in Rio 2016. Allein: Bei der Ahndung der Einzelfälle kam dem IPC die Entschlossenheit abhanden. Bislang wurde kein einziger Athlet bestraft.

Dieselbe Substanz wie bei Eiskunstläuferin Walijewa

Grigorij Rodtschenkow, der damalige Leiter des Moskauer Labors, der die Dopingvertuschung in Sotschi in die Wege leitete und überwachte, bevor er aus Russland floh und den Skandal ans Licht brachte, hat die Geschehnisse näher erläutert. In seiner Autobiografie "Die Rodtschenkow-Affäre" aus dem Jahr 2020 schreibt er: "Wir begannen, zahlreiche positive Ergebnisse bei russischen Athleten zu entdecken. Insbesondere fanden wir Trimetazidin, ein im Ostblock weit verbreitetes Stimulans."

Grigorij Rodtschenkow

Grigorij Rodtschenkow

Trimetazidin war erst Anfang 2014 in die WADA-Verbotsliste aufgenommen worden, und nach Rodtschenkows Ansicht "schien es, dass die russischen paralympischen Athleten nicht über die Änderung informiert worden waren". Die Substanz hat in den vergangenen Wochen für größtmöglichen olympischen Wirbel gesorgt. Der 15-jährige Eiskunstlauf-Jungstar Kamila Walijewa war vor den Olympischen Spielen im vergangenen Monat positiv getestet worden, was allerdings erst nach ihrem ersten Start bekannt wurde.

Ihr Fall, der noch untersucht wird, wurde von ihrem Team auf Trinken aus einem Glas Wasser zurückgeführt, das mit dem Herzmedikament ihres Großvaters verunreinigt war. Ein Medikament allerdings, das schon Jahre zuvor unter russischen Sportlern enorme Popularität genoss. Obwohl vermutlich keiner von ihnen es aus medizinischen Gründen nehmen musste.

Auf Anfrage der ARD teilte das IPC jetzt lediglich mit, dass es noch "einige offene Fälle in Bezug auf russische Athleten" gebe, und fügte hinzu: "Da es sich um offene und sehr komplexe Fälle handelt, können wir die Identität der besagten Athleten nicht bekannt geben."

"Angst und Zögern" sind schuld an der Nichtverfolgung der Fälle

Rodtschenkow, der nach wie vor in Nordamerika unter Zeugenschutz steht, ist davon nicht beeindruckt. Der Russe glaubt, dass eine Entscheidung des Weltschiedsgerichts für Sport (CAS) aus dem Jahr 2018 das IPC davon abgehalten hat, die eigenen Fälle zu verfolgen. Damals hob der CAS die Bestrafung bei anderen russischen Dopingfällen im olympischen Sport auf.

Grigori Rodtschenkow hat dazu jetzt der ARD eine Stellungnahme abgegeben: "Das IPC hat Angst und zögerte, seriöse Untersuchungen durchzuführen, angemessene Sanktionen zu verhängen und Medaillen streng neu zu verteilen. Und das Ganze dann schließlich vor dem CAS durchzukämpfen", sagte er. "Das hat das IPC von einer breit angelegten Untersuchung abgehalten."

Sollten die sechs russischen Gewinner von insgesamt 21 paralympischen Medaillen letztlich disqualifiziert werden, würde ausgerechnet die Ukraine profitieren: Das Land, das jetzt von Russland angegriffen wird, würde sechs Goldmedaillen erben. Das würde für einen beachtlichen zweiten Platz im Medaillenspiegel hinter Russland reichen. Auch Deutschland würde so die Chance auf eine Medaille nachträglich winken: für Anja Wicker im Biathlon über 12,5 Kilometer.

"Das Zögern des IPC, Russland diese Woche von den Paralympischen Spielen auszuschließen, war ein klares Zeichen für die Macht, die die Russen und damit auch das IOC über die paralympische Bewegung ausüben", sagt Rob Koehler, der Leiter der Interessenvertretung Global Athletes. Er fügt hinzu: "Man könnte sich fragen, ob dies die gleichen Gründe sind, warum die Dopingfälle bei den Paralympischen Spielen 2014 in Sotschi nicht energisch verfolgt wurden."