Fünf Jahre Videobeweis Macht der VAR den Fußball wirklich gerechter?

Stand: 17.08.2022 15:14 Uhr

Seit fünf Jahren gibt es im deutschen Fußball den Videobeweis, er sollte ihn gerechter machen. Ist das so oder bloß eine Illusion?

Für Videobeweis-Projektleiter Jochen Drees vom DFB ist der Fall klar: Er hält den Video-Assistenten trotz aller Kritik weiterhin für "ein Erfolgsmodell", das den Fußball gerechter macht. Dem "Kicker" sagte er kürzlich: "Wir haben über 100 korrigierte Fehlentscheidungen in der abgelaufenen Bundesligasaison. Und wenn man es mal genauer betrachtet: Es gibt keine Abseitstore mehr, keine Schwalben mehr, keine Tätlichkeiten mehr." Seiner Ansicht nach zumindest nicht ungeahndet.

Dennoch sorgen Entscheidungen des Video Assistent Referee (VAR) in unschöner Regelmäßigkeit für Diskussionen bei Beteiligten und Fans. Es ist womöglich nur eine Illusion, dass der Videobeweis, eingeführt in der Saison 2017/18, den Fußball tatsächlich gerechter gemacht hat. Die Fehlerquelle jenseits der Technik ist der Mensch, und es ist nur allzu menschlich, dass er Fehler macht - Unfehlbarkeit wäre ein völlig überzogener Anspruch.

Strittige Entscheidungen bleiben

Weiterhin gibt es falsche, zumindest strittige Entscheidungen wie etwa am vergangenen Wochenende bei Marius Wolfs Treffer zum 3:1 für Borussia Dortmund in Freiburg. Sein Kollege Youssoufa Moukoko stand beim Torschuss abseits, bewegte sich sogar zum Ball hin und beeinflusste so SC-Torwart Mark Flekkens Möglichkeiten, den Ball zu spielen. Der VAR griff nicht ein, was er laut der Schiedsrichter-Experten des Fußball-Podcasts "Collinas Erben" aber hätte tun müssen. Der Treffer hätte demnach nicht zählen dürfen.

Damit sind wir beim nächsten Problem. Der VAR soll eigentlich nur eingreifen bei klaren Fehlentscheidungen des Schiedsrichters, die den weiteren Spielverlauf massiv beeinflussen würden. Das interpretiert jeder VAR augenscheinlich auf sehr persönliche Weise.

Bode auf der Suche nach der "VARheit"

Werder Bremens Ex-Aufsichtsratsvorsitzender und Ex-Nationalspieler Marco Bode skizziert diese Problematik in seinem mit dem Autor Dietrich Schulze-Marmeling verfassten Buch "Tradition schießt keine Tore - Werder Bremen und die Herausforderungen des modernen Fußballs" im Kapitel "Auf der Suche nach der VARheit". Die Verfasser weisen darauf hin, dass bei der Einführung des VAR kommuniziert worden sei, "dass vor allem extrem krasse Fehlentscheidungen korrigiert werden sollten".

Bremens Ex-Aufsichtsratsvorsitzender Marco Bode.

Bremens Ex-Aufsichtsratsvorsitzender Marco Bode.

Dieses Ziel sei im Laufe der Jahre aufgegeben und dadurch ersetzt worden, "so viele Fehlentscheidungen wie nur möglich zum Besseren zu korrigieren". Das Fazit von Bode und Schulze-Marmeling: "Wo es ursprünglich nur um die Korrektur von 100:0- oder 90:10-Entscheidungen gehen sollte, wird tatsächlich in der Praxis jede strittige Entscheidung überprüft. Gerade bei der Frage, ob ein elfmeterwürdiges Foulspiel oder Handspiel vorliegt, gehen die Meinungen aber oft so weit auseinander. Wir fummeln jetzt an allen 70:30-, 60:40-, häufig auch an 50:50-Entscheidungen herum und schaffen dadurch neue Probleme."

"Rote Taste" für drei zusätzliche VAR

Einen interessanten Vorschlag macht Bode zur Möglichkeit, die Fehlerquote des VAR zu minimieren. Demnach sollen dem üblichen VAR drei Experten - zum Beispiel ehemalige Schiedsrichter oder Nachwuchs-Schiedsrichter - zur Seite gestellt werden, die in Einzelkabinen das Spiel verfolgen und keine Möglichkeit haben, miteinander und mit dem Schiedsrichterteam auf dem Platz zu kommunizieren.

Die Entscheidungsfindung sähe dann so aus: "Bei nicht-faktischen Entscheidungen beurteilt der Schiedsrichter die jeweilige Situation und seine Entscheidung steht, es sei denn, ALLE Experten kommen zu dem Schluss, dass eine Fehlentscheidung vorliegt. In diesem Fall wird die Entscheidung korrigiert und an den Schiedsrichter kommuniziert. Wenn nur ein Experte nicht die 'Rote Taste' drückt, wird nicht eingegriffen."

Schiedsrichter Aytekin für mehr Transparenz

Aber selbst dieses System löst ein anderes gravierendes Problem nicht. Fan-Organisationen beklagen immer wieder, dass gerade für die Zuschauer im Stadion die Entscheidungsfindung beim Videobeweis wegen Intransparenz nicht nachzuvollziehen sei. Profi-Schiedsrichter Deniz Aytekin sagte dazu schon Ende vergangenen Jahres der Deutschen Presse-Agentur: "Je mehr Transparenz vorhanden ist, desto mehr wird eine Entscheidung akzeptiert. Das ist doch überall so - auch, wenn ich zu Hause mit meinen Kindern rede."

 Deniz Aytekin

Schiedsrichter Deniz Aytekin

Aytekin ergänzte: "Wenn im Fußball irgendwann entschieden wird, dass die Kommunikation zwischen dem Schiedsrichter und seinen Assistenten offengelegt werden soll, bin ich der Letzte, der sich dagegen wehrt."

Absurdität per Videobeweis

Es bleibt aber ein weiterer Kritikpunkt am Videobeweis: die zuweilen quälend lange Entscheidungsfindung. Auf die Spitze getrieben wurde dies bei der Partie 1. FSV Mainz 05 gegen den SC Freiburg im April 2018.

Schiedsrichter Guido Winkmann hatte zur Pause gepfiffen, die Freiburger waren schon in der Kabine, als der Unparteiische nach Rücksprache mit Videoschiedsrichterin Bibiana Steinhaus doch noch auf Handelfmeter für Mainz entschied. Sieben Minuten nach dem Halbzeitpfiff, mitten in der Pause, verwandelte Pablo De Blasis den Elfmeter zur 1:0-Führung. Es war der erste Strafstoß in der Bundesliga-Historie, der in der Pause gegeben wurde.

Schiedsrichter Guido Winkmann und Christian Streich

Schiedsrichter Guido Winkmann in der Diskussion mit Freiburgs Trainer Christian Streich

Ewige Diskussionen, ewiges Gemecker

Zur grundsätzlichen Akzeptanz von Schiedsrichter- und VAR-Entscheidungen trägt natürlich auch nicht die ewige Theatralik der Spieler auf dem Platz bei. Nahezu jede Entscheidung der Unparteiischen wird gestenreich in Frage gestellt, es wird diskutiert, gemeckert, zuweilen getobt. In Marco Bodes Buch heißt es dazu: "Wahrscheinlich gibt es kaum eine andere Sportart als Fußball (der Männer), bei der die Spieler mit so viel Theatralik und böser Absicht versuchen, den Schiedsrichter in die Irre zu führen."

In anderen Sportarten wie Handball, Hockey oder Rugby, bei denen der Videoschiedsrichter selbstverständlich dazugehört, wird ein anderer Umgang mit Entscheidungen der Referees gepflegt. Und auch dieser Unterschied hat wohl einen Einfluss auf die Wahrnehmung des VAR im Fußball.