Jürgen Dusel

Behindertenbeauftragter Dusel Kritik am deutschen Fußball - "Bei Barrierefreiheit nur Kreisliga"

Stand: 08.02.2024 10:56 Uhr

Jürgen Dusel ist seit 2018 Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderung. Der 58-Jährige ist aber auch Fußball-Fan mit großen Sympathien für den FC Energie Cottbus. Im Interview mit der Sportschau kritisiert er den deutschen Fußball - für zu wenig Barrierefreiheit und Inklusion. Das Verhalten der Deutschen Fußball-Liga(DFL), ihrer Klubs und von kommunalen Stadionbetreibern nennt er mit Blick auf zu wenig Rollstuhlplätze unprofessionell und diskriminierend.

Sportschau: Herr Dusel, in Deutschland gibt es die Muster-Versammlungsstättenverordnung. Diese regelt, dass eigentlich in Stadien bis 5.000 Plätzen ein Prozent und bei größeren Stadien dann 0,5 Prozent aller Plätze für Rollstuhlfahrer bereit gehalten werden müssen. 13 von 16 Bundesländern haben das 1:1 übernommen. Aber kein deutsches Stadion erfüllt diese Voraussetzung. Wie kann das sein?

Jürgen Dusel: Das ist bitter. Da muss man sich natürlich schon fragen, was die Aufsichtsbehörden tun, wenn solche Plätze nicht entstehen. Es ist ja nicht nur eine Frage der Fairness, dass Menschen mit Behinderungen Zugang zu Stadien haben, dass sie das Sporterlebnis dann auch wirklich wahrnehmen können - sondern das ist eine Frage des Rechts.

Sportschau: Bei unseren Recherchen haben wir erfahren, dass die Baubehörden für ihre Stadionbetreiber und Vereine gerne Ausnahmen machen. Das habe durchaus auch mit der Lobby des Fußballs zu tun, heißt es.

Dusel: Das kann ich von meiner Warte nicht bestätigen. Ich kann nur sagen: Es gibt Vorschriften, die eingehalten werden müssten. Es geht nicht um eine Frage der Nächstenliebe oder 'nice to have', sondern die Bundesrepublik Deutschland hat die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen ratifiziert - also zu geltendem Recht gemacht. Das hat nicht nur der Bund getan. Auch im Bundesrat haben die Länder den Finger gehoben.

Und darin ist beschrieben, dass Menschen mit Behinderung einen Rechtsanspruch auf Zugang zur baulichen Umgebung haben. Artikel neun. Und eben auch zu Sportstätten - laut Artikel 30. Und ich finde, es ist Aufgabe des Staates, und damit meine ich jetzt in dem Falle konkret auch die Länder, dass diese Teilhabe auch stattfindet. Dass ich dieses Recht als behinderter Mensch auch leben kann, ist ein demokratisches Prinzip.

Sportschau: Laut der Versammlungsstättenverordnung müsste es in den Stadien der ersten und zweiten Bundesliga rund 7.400 Rollstuhlfahrer-Plätze geben. Es sind aber nur etwa 3.000. Tickets werden so zum raren Gut, wenn zum Beispiel in Dortmund nur 72 Rollstuhlplätze statt der eigentlich verordneten 425 vorhanden sind.

Dusel: Da sieht man, wie weit wir weg sind von Inklusion. Am liebsten wäre mir, wenn wir sozusagen 'design for all' produzieren könnten. Also, dass Menschen im Rollstuhl nicht darauf angewiesen sind, dass sie irgendwo hinter der Bande sitzen, sondern dass sie möglichst überall Zugang haben - im VIP-Bereich genauso wie auch im Fanblock. Dort, wo man eben als Fan gerne hinwill.

Es ist ganz wichtig, dass uns klar wird, dass Barrierefreiheit die Voraussetzung für gelingende Inklusion ist. Die funktioniert nicht, wenn ich nach dem Spiel beispielsweise mit meinem Rollstuhl nicht in die Stadionkneipe komme. Oder wenn ich nicht in der Lage bin, mich auszutauschen während des Spiels, weil Rollstuhlfahrerinnen, Rollstuhlfahrer alleine irgendwo sitzen. Wenn also keine Begegnungen entstehen, dann entsteht eben auch nicht das, was so wichtig für unsere Gesellschaft ist, nämlich das Miteinander.

Sportschau: Aber genau das wird oft betont als großer Verdienst des Fußballs.

Dusel: Ich stelle fest, dass Deutschland sich für die Frauen-WM 2027 beworben hat und 2024 die Europameisterschaft der Männer ausrichtet. Da sind doch Stadien auch ein Aushängeschild, ein Schaufenster zum Thema Barrierefreiheit. Barrierefreiheit ist ein Qualitätsmerkmal für ein modernes Land. Ich würde mir also wünschen, dass die Frauen Weltmeister werden und die Nationalmannschaft der Männer Europameister. Aber, dass wir im Bereich der Barrierefreiheit nicht weiterhin nur Kreisliga sind.

Sportschau: Seit längerem beklagen Betroffenen-Organisationen, dass die Gesetze zur Barrierefreiheit in Deutschland zu sehr auf Freiwilligkeit beruhen, also nicht streng genug sind.

Dusel: Wir haben leider in Deutschland immer noch die Situation, dass wir eben noch nicht die privaten Anbieter von Produkten und Dienstleistungen (Dazu zählen auch Veranstalter wie die DFL und Vereine, Anm. d. Red.) zur Barrierefreiheit verpflichten. Da soll nun eine Gesetzesänderung angeschoben werden. Das Behindertengleichstellungsgesetz des Bundes. Und die Länder übernehmen das dann. Also, dass für Behinderte nicht nur der Weg ins Rathaus klassisch barrierefrei ist, sondern die Menschen auch ins Kino, Theater, ins Stadion können. Denn da sind wir in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern wirklich nicht gut.

Sportschau: Die DFL hat für ihren Spielbetrieb Regularien, die sehr tief ins Detail gehen. Wer diese als Klub nicht erfüllt, erhält keine Lizenz. Aber bei der Anzahl der Rollstuhlplätze bleibt es bei Empfehlungen seitens der DFL. Wie bewerten sie das?

Dusel: Auch für die DFL gilt: Es ist ja nicht ein Akt der Nächstenliebe, sondern wir leben in der Bundesrepublik Deutschland in einer Demokratie. Alle haben das gleiche Recht, keiner ist mehr wert als der andere. Demokratie und Inklusion sind im Grunde zwei Seiten derselben Medaille. Und man könnte dann durchaus sagen: Wenn Inklusion nicht richtig stattfindet, dann haben bestimmte Leute auch ein Demokratieproblem.

Also, ich erwarte schon von der DFL und auch von den Bundesligavereinen, dass sie in diesem Bereich besser werden. Nicht, weil das ein Akt der Fürsorge ist, sondern Menschen mit Behinderung sind Fans wie alle anderen auch. Es ist eine Frage des Fairplay, dass Menschen mit Behinderung natürlich teilhaben können.

Sportschau: Zumal die DFL bereits 2018 selbst erkannt hat, dass die Klubs eigentlich ihre Rollstuhlplätze verdoppeln müssten - mit Blick auf die gesellschaftspolitische und demografische Entwicklung.

Dusel: Wir leben in einer älter werdenden Gesellschaft. Und das ist auch in der Tat eine gesellschaftlich bedeutende Frage, sicherzustellen, dass der mobilitätseingeschränkte Großvater mit der Enkelin auch zu Spielen kommen kann. Ich glaube, das ist letztlich auch eine Frage der Qualität von Fußball und von den Strukturen um den Fußball herum.

Sportschau: Zur EURO 2024 werden tatsächlich auf Forderung der europäischen Fußball-Union UEFA in den zehn deutschen Stadien 454 zusätzliche Rollstuhlplätze und 200 bis 300 zusätzliche Easy-Access-Plätze für mobilitätseingeschränkte Fans geschaffen. Aber die werden nach dem Turnier an vielen Standorten wieder rückgebaut.

Dusel: Das empfinde ich als gaga. Das ist auch fast zynisch. Zu sagen, wir machen das jetzt, weil wir es eben von außen gesagt bekommen - und dann bauen wir wieder zurück. Das ist auch nicht nachhaltig, es ist nicht professionell. Und deswegen erwarte ich, dass das nicht passiert. Ich würde mich sehr wundern, wenn Vereine das wirklich dann auch mit gutem Gewissen tun könnten.

Sportschau: In Dortmund zum Beispiel sollen aus 144 Rolli-Plätzen während der EURO dann wieder 72 werden.  

Dusel: Und deswegen braucht es eben auch rechtliche Regelungen, die das verhindern. Also wir können nicht immer nur auf Freiwilligkeit und Einsicht setzen. Wir müssen die rechtlichen Rahmenbedingungen verändern, mit angemessenen Übergangsfristen. Das klappt vielleicht nicht zur Saison 2024/25. Aber man muss es angehen. Wer das heutzutage nicht auf dem Schirm hat, ist unprofessionell. Der macht einen schlechten Job. Niemand darf, so steht es in unserem Grundgesetz, aufgrund einer Behinderung benachteiligt werden. Wenn Fußballfans im Rollstuhl da auf Barrieren stoßen, dann ist das nicht in Ordnung.

Sportschau: Die Bundesligavereine und die DFL halten an speziellen Vielfalts-Spieltagen und in Image-Kampagnen die Fahne der Inklusion immer sehr hoch. Warum hinkt die Realität da hinterher?

Dusel: Inklusion machen heutzutage viele, weil es modisch ist. Es geht aber nicht um etwas Modisches bei der Inklusion. Es geht um was Demokratisches. Und deswegen könnte man sagen: Nicht an den Worten, an den Taten sollt ihr sie erkennen. Also auf der einen Seite ist es natürlich gut, dass beispielsweise Kinder mit Behinderungen bei Fußballspielen mit auflaufen können. Aber das reicht eben nicht aus, sondern man muss strukturell das Thema angehen. Und das bedeutet ganz konkret: Zugänge zu schaffen für Menschen mit Behinderungen. Mit welchem Recht halten wir an einer Struktur fest, die tatsächlich Menschen ausgrenzt?

Sportschau: Der Leiter der Bundesfachstelle Barrierefreiheit, Volker Sieger, sagt: Die Vereine reagieren auch aus finanziellen Gründen nicht. Rollstuhlfahrer-Plätze bringen kein Geld.

Dusel: Das darf nicht mit Geld zusammenhängen, sondern das sind Bürgerinnen und Bürger, und die haben Anspruch auf Zugang. Und wer das nicht macht, für den muss das tatsächlich auch Konsequenzen haben. Ich bin persönlich der Meinung, das muss dann irgendwann auch mal zu Schadensersatzansprüchen führen, wenn ich als Mensch mit Behinderung nicht teilhaben kann. Das ist letztlich eine Diskriminierung. Das muss allen Verantwortlichen im Fußball klar werden.

Das Interview führte Matthias Wolf