Der relative Alterseffekt im Fußball Das Geburtsdatum als Wettbewerbsnachteil 

Stand: 31.08.2021 09:53 Uhr

Elf der 26 aktuellen deutschen A-Nationalspieler sind in den ersten drei Monaten eines Jahres geboren - das Geburtsdatum ist ein wichtiger Faktor im Kampf um die wenigen Plätze im Profigeschäft.

Von Thilo Brink

Für Talente im deutschen Fußball ist der 1. Januar ein Schicksalstag. Denn er beeinflusst nachweislich die Wahrscheinlichkeit, ob der Sprung zu den Profis gelingt.

Je später das Geburtsdatum im Jahr liegt, desto kleiner die Chance, im Talentsystem des DFB berücksichtigt zu werden. In Verbänden und Vereinen wächst langsam die Erkenntnis, diesem Phänomen entgegenwirken zu müssen.

Zu klein, zu schmächtig, zu wenig gefördert

Dabei ist der Ursprung dieses Problems schon lange bestens erforscht. Der relative Alterseffekt beschreibt den Unterschied zwischen kalendarischem und biologischem Alter und tritt besonders deutlich zwischen elf und 15 Jahren auf - einem Alter, in dem die meisten Talente den Weg in die Nachwuchsleistungszentren finden.

Bis zu vier Jahre kann sich das biologische Alter bei Spielern desselben Jahrgangs unterscheiden, was sich vor allem in den athletischen Voraussetzungen und im Eins-gegen-Eins bemerkbar macht. Durch technische Fähigkeiten lässt sich dies kaum ausgleichen.

Talente und Nachwuchs gehen verloren

Das hat zur Folge, dass körperlich spät entwickelten Talenten in den Auswahlmannschaften oft nur der Platz auf der Ersatzbank bleibt. Ein Missstand, der auch in den Nachwuchsleistungszentren (NLZ) eher Regel als Ausnahme ist.

Christoph John, Leiter des NLZs von Viktoria Köln, sieht die Spieler in einem Negativkreislauf, "der dazu führt, dass Spieler früher oder später selektioniert werden und man nichts mehr von ihnen hört". Die Konsequenz: In der Nachwuchsförderung gehen Talente und im Breitensport der so wichtige Nachwuchs verloren.

"Projekt Zukunft“ soll Abhilfe schaffen

Auch dem DFB ist das bekannt. "Teilweise liegt das Verhältnis in den Auswahlmannschaften bei 80:20 von im ersten Halbjahr geborenen zum restlichen Jahrgang", bestätigt Damir Dugandzic, Sportlicher Leiter des DFB-Talentförderprogramms. Im Strategiepapier "Projekt Zukunft" wird deshalb verstärkt auf eine individuellere Betrachtung der Entwicklungsstände junger Spielerinnen und Spieler verwiesen. Im Trainingsbereich ergeben sich dabei laut Dugandzic viele konkrete Anwendungspunkte.

Für den Wettkampf sieht er weitaus größere Hürden. Zwar gebe es bereits erste Ansätze - etwa eine Einsatzgarantie bei Auswahlspielen für alle eingeladenen Talente oder jahrgangsübergreifende Sichtungsturniere.

Die Stichtagsregelung macht die Übertragung in den Spielbetrieb aber fast unmöglich. Zwar kann ohne Probleme ein Spieler oder eine Spielerin in höheren Jahrgängen eingesetzt werden. Geht es aber um die Spielberechtigung in einem jüngeren Jahrgang, muss der Verein die körperliche Spätentwicklung mit einer ärztlichen Bescheinigung nachweisen.

"Bio-Banding" statt Stichtagsregelung?

Dass es auch anders geht, zeigt der Blick in andere Länder. In England und Belgien wird schon länger gegen den relativen Alterseffekt angegangen. Dabei kommt auch das so genannte "Bio Banding" zum Einsatz, das Spielerinnen und Spieler nicht nur nach dem kalendarischen, sondern auch nach dem biologischen Alter einteilt. So werden fairere Wettkampfbedingungen geschaffen. Gleichzeitig können die Talente individueller analysiert und gefördert werden.

Der sportliche Erfolg und die Entwicklung von Spielern wie Harry Kane oder Kevin de Bruyne geben ihnen Recht. Beide wurden trotz ihres körperlichen Rückstandes in den Leistungszentren gefördert und konnten so zu Aushängeschildern ihrer Verbände reifen. Für Damir Dugandzic vom DFB liegt das aber nicht nur am "Bio-Banding". Eine bessere Trainerausbildung und alternative Spielformen im Kinderfußball seien genauso wichtig.

Dennoch arbeitet der DFB mit der Universität Tübingen und dem Schweizer Fußballverband an einer eigenen Messmethode für die Ermittlung des biologischen Alters, um diese in den Vereinen zu etablieren.

Weg vom Ergebnisfußball

Ideen, die NLZ-Leiter Christoph John bereits in die Praxis umgesetzt hat. In gemeinsamen Trainingseinheiten von U14 und U15 werden Spieler auf dem gleichen Entwicklungsstand in Kleingruppen eingeteilt und so gezielter gefördert. Doch er wünscht sich noch mehr: "Wir müssen den Druck von den Trainern nehmen und akzeptieren, dass es um eine individuelle und langfristige Förderung geht und nicht nur um das Ergebnis im nächsten Spiel".

Wann das aber flächendeckend nicht nur gefordert, sondern auch vom DFB gefördert wird, kann auch Talentchef Dugandzic nicht genau sagen - zumal der Erfolg einer solchen Reform erst nach fünf bis zehn Jahren sichtbar werden würde. Auch deshalb betont er: "Der Weg aus dem relativen Alterseffekt wird eher ein Marathon als ein Sprint."