Nahaufnahme Turnerin

Aufarbeitung der Vorwürfe im Turnen Von schlaflosen Nächten und vermissten Trainerinnen

Stand: 23.05.2025 16:01 Uhr

Bei der Turn-EM in Leipzig (26.-31.05.) wird der Sport im Fokus stehen. Doch im Hintergrund laufen Ermittlungen der Staatsanwaltschaft und die Aufarbeitung der Vorwürfe von interpersonaler Gewalt.

Von Johannes Seemüller

Helen Kevric lächelte in die Kamera. Auf ihrem Instagram-Account schrieb Deutschlands beste Turnerin kürzlich: "Ich bin glücklich über meine Ergebnisse in beiden Qualifikationen und freue mich schon auf die EM." Tatsächlich hat die 17-jährige Olympiateilnehmerin von Paris allen Grund zur Freude. Kevric hatte sich bei der zweiten EM-Qualifikation eindrucksvoll zurückgemeldet und den Wettkampf haushoch gewonnen. Die Stuttgarterin war sportlich lange Zeit abgetaucht, es wurde gerätselt, ob sie überhaupt an der Heim-EM teilnehmen würde. Dass Kevric trotz der schwierigen Umstände am Kunst-Turn-Forum in Stuttgart (Anfang des Jahres waren ihre Trainerin und ihr Trainer freigestellt worden) und trotz Lernens für den Realschul-Abschluss sportlich wieder auf einem hohen Niveau ist, nötigt dem Bundestrainer höchsten Repekt ab. "Ich war in den Prozess eng eingebunden", sagte Gerben Wiersma am Freitag in einer Medienrunde. "Was ich von ihr gesehen habe, war wirklich großartig." Deshalb ist Kevric auch für den Mehrkampf bei der EM gesetzt.

Sportlich ist Kevric voll präsent. Zu den um die Jahreswende öffentlich gemachten Vorwürfen aktueller und ehemaliger Spitzenturnerinnen über körperliche und seelische Übergriffe an den Turnstützpunkten Stuttgart und Mannheim wollte und will Kevric sich nicht äußern. Bei der ersten EM-Qualifikation ließ sie den Medienvertretern ausrichten, sie gebe keine Interviews. Der Schwäbische Turnerbund (STB) teilte auf SWR-Anfrage mit, dass im Kunst-Turn-Forum in Stuttgart nach wie vor keine Trainingsaufnahmen und Interviews erwünscht seien. Turnerinnen und deren Eltern wollten dies nicht, dies habe der Verband aufgrund der Persönlichkeitsrechte der minderjährigen Turnerinnen zu akzeptieren. So geht das schon seit Anfang des Jahres.

Startrainerin Boorman fehlte in der heißen Phase der EM-Vorbereitung

Lediglich als Aimee Boorman, US-amerikanische Spitzentrainerin und ehemaliger Erfolgscoach von Weltstar Simone Biles, im März vorgestellt wurde, durfte das Turnzentrum von Medienvertretern betreten werden. Die Turnerinnen hatten zu diesem Zeitpunkt bereits die Halle verlassen. Die Atmosphäre im Kunst-Turn-Forum habe sich seit der Verpflichtung der charismatischen Boorman deutlich verbessert, es werde wieder mehr gelacht und kommuniziert – all dies ist aus dem Umfeld zu vernehmen. Offiziell sagen will es aber niemand.

Erstaunlich, dass Startrainerin Boorman ausgerechnet in der heißen Vorbereitungsphase vor der EM nicht in Stuttgart war. "Aufgrund von anderweitigen Verpflichtungen" könne sie das Training im Mai nicht leiten, teilte der Deutsche Turner-Bund (DTB) auf SWR-Anfrage mit. Dies sei bei der Verpflichtung Boormans schon bekannt gewesen. Deshalb leitete zuletzt die US-Amerikanerin LaPrise Harris-Williams die Übungseinheiten der Trainingsgruppe um Helen Kevric und Marlene Gotthardt. Harris-Williams hat viele Jahre eng mit Boorman zusammengearbeitet, zuletzt gründeten beide ein Unternehmen, das in den USA eine eigene Turnliga schaffen will. Ihre Tätigkeit in Stuttgart geschehe "in enger Abstimmung" mit Boorman. Harris-Williams gehört auch dem deutschen Trainerteam bei der Heim-EM an.

Schwierige Situation am Turnstützpunkt Mannheim

Auch am Bundesstützpunkt in Mannheim ist die Trainings-Situation angespannt, seit zunächst ehemalige Turnerinnen und später dann auch Deutschlands Rekordturnerin Elisabeth Seitz schwere Vorwürfe vor allem gegen Claudia Schunk, ehemalige Trainerin in Mannheim und heutige Bundestrainerin Nachwuchs weiblich, erhoben hatten.

Schunk ließ nach den öffentlichen Vorwürfen zunächst ihre Tätigkeit am Stützpunkt in Mannheim ruhen. Nachdem die Staatsanwaltschaft Stuttgart Ermitttlungen gegen die Trainerin aufgenommen hatte, wurde Schunk vom DTB bis auf weiteres freigestellt. "Die Dauer wird insbesondere von den staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen abhängen, deren Abschluss wir abwarten müssen", teilte der Verband mit. Für Schunk hat Bundestrainer Gerben Wiersma temporär zusätzlich zu seinem eigentlichen Tätigkeitsbereich die Gesamtverantwortung übernommen.

Auch gegen die leitende Trainerin am Stützpunkt in Mannheim laufen Ermittlungen der Staatsanwaltschaft. Auch sie ist – wie Schunk - aktuell freigestellt. Für die beiden 17-jährigen Spitzenturnerinnen Silja Stöhr und Janoah Müller, die bei der Heim-EM in Leipzig für Deutschland starten werden, waren es ohne ihre vertrauten Trainerinnen verwirrende Monate.

Silja Stöhr und Janoah Müller zur Trainer-Situation in Mannheim

"Es war eine schwierige Zeit", sagt Stöhr zu SWR Sport. "Wir vermissen unsere Trainerinnen sehr. Wir haben immer das Gefühl gehabt, ein gutes Team zu sein." Sie ergänzt:

Es tut uns leid, sie gerade nicht hier zu haben. Wir hoffen, dass sie bald wieder zurückkommen. Silja Stöhr, EM-Turnerin Mannheim

Ihre Freundin und Turnpartnerin Janoah Müller sagt: "Wir haben versucht, das Beste daraus zu machen und uns gegenseitig zu pushen." Die Vorwürfe gegen ihre Trainerinnen seien für sie "schwer nachzuvollziehen" gewesen. Denn "wir haben uns sehr wertgeschätzt und gut behandelt gefühlt."

Stützpunktleiter Joachim Fichtner berichtet, wie belastend die Situation gewesen sei. "Wir brauchten in den vergangenen Monaten eine Rundum-Betreuung, nicht nur für die Sportlerinnen, sondern auch für die Trainer. Das hat viele schlaflose Nächte gekostet, denn man weiß nie, was da noch kommt." Grundsätzlich sei man davon überzeugt, "dass das, was wir machen, richtig ist." Man sei auch offen für Kritik, aber es sei belastend gewesen.

Stützpunktleiter Joachim Fichtner zur Situation in Mannheim

Der Ausfall der freigestellten Trainerinnen wurde in Mannheim durch die anderen Fachleute am Stützpunkt kompensiert. Allerdings warnt Fichtner: "Es geht aktuell jede und jeder an seine Belastungsgrenze. Wir werden sehen, wie lange wir dies durchhalten." Das Training der Bundeskaderathletinnen in Mannheim wurde zuletzt von den Trainern Dmitri Loschakov und Narina Kirakosyan geleitet. Loschakov wird Stöhr und Müller zur EM nach Leipzig begleiten.

Fichtner ist von den zwei 17-jährigen Kader-Athletinnen beeindruckt. "Ich hätte nicht gedacht, dass sie es zur EM schaffen – bei dem, was alles auf sie eingeprasselt ist." Lob kommt auch von Bundestrainer Gerben Wiersma: "Ich bin extrem stolz auf die beiden, wie überhaupt für mein gesamtes Team. Die Situation für die Turnerinnen in Stuttgart und Mannheim war hart. Silja und Janoah haben ihre Leistungen in den vergangenen Monaten erbracht."

Beste Freundinnen: Turnerinnen Silja Stöhr und Janoah Müller

Wie soll es im deutschen Turnen weitergehen? Fichtner betont, er könne nur für den Stützpunkt Mannheim sprechen. "Ich wünsche mir, dass die Athletinnen, sollten sie Probleme haben, noch mehr auf uns zukommen. Und wir sollten die Kritik, wenn sie geäußert wird, annehmen. Wir sollten nicht versuchen, uns zu rechtfertigen, sondern uns zu reflektieren."

Während dessen laufen die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Stuttgart weiter. Auf SWR-Anfrage teilte die Behörde mit, mittlerweile seien elf Objekte durchsucht und mehr als 40 Vernehmungen durchgeführt worden.

Die Aufarbeitung hat begonnen

Auch von anderer Seite wird das Turnsystem durchleuchtet. Anfang April begann eine vom Landessportverband Baden-Württemberg (LSVBW) eingesetzte fünfköpfige Expertenkommission, die Missstände im leistungsorientierten Turnsport vor allem hinsichtlich der Strukturen aufzuarbeiten. Die Arbeitsgruppe unter Vorsitz des ehemaligen Staatsanwalts Klaus Pflieger will viele Gespräche führen, um die Knackpunkte herauszufiltern. Es soll mit Sportlerinnen gesprochen werden, aber auch mit Eltern, Trainern und Funktionären. Der Bietigheimer Zeitung sagte Pflieger: "Die Staatsanwaltschaft hat uns gebeten, auf die angedachten Gespräche zu verzichten, um ihre Ermittlungen nicht zu behindern. Ich kann das verstehen. Aber wir können auf solche Gespräche nicht verzichten." Er betonte, er erwarte durchaus Gegenwind von Sportlern, Funktionären oder Verbänden.

Die Arbeitsgruppe will laut Pflieger vor allem drei Dinge in den Mittelpunkt rücken: Ethische Fragen des Leistungssports müssten diskutiert werden, die soziale Kompetenz ("soft skills") von Trainern und Funktionären sollte in den Vordergrund treten, und die Compliance-Regeln müssten eingehalten und kontrolliert werden. Im Juli will die Expertenkommission einen Bericht vorlegen.

Der DTB beschreitet anderen Weg der Aufarbeitung

Beim Deutschen Turner-Bund (DTB) geht man einen anderen Weg. Zunächst wurde die Frankfurter Kanzlei Rettenmaier beauftragt, die bekannt gewordenen Vorfälle zu untersuchen. Hierzu sollten von den Rechtsanwälten eigentlich Befragungen v.a. von ehemaligen und aktuellen Turnerinnen durchgeführt werden. Doch auf SWR-Anfrage teilt der DTB mit, "dass seitens der Kanzlei bislang keine Befragungen durchgeführt" worden seien. Dies geschehe mit Rücksicht auf den Vorrang der andauernden staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen und die in diesem Rahmen erfolgenden Vernehmungen. "Eine Mehrfachbelastung der Auskunftspersonen soll so weit wie möglich vermieden werden", schreibt der DTB.

Was also macht die beauftragte Kanzlei aktuell? Sie führe, so heißt es, in Abstimmung mit der Staatsanwaltschaft Stuttgart derzeit "zunächst eine Datenanalyse" durch.

Wann nimmt der Expertenrat seine Arbeit auf?

Im Gegensatz zur Aufarbeitungs-AG in Baden-Württemberg, deren Arbeit Tempo aufgenommen hat, schafft der DTB für seine eigene Aufarbeitung aktuell zunächst einmal eine "rechtliche Grundlage", um einen Aufarbeitungsprozess "aufgleisen zu können". Danach soll ein unabhängig besetzter und benannter Expertenrat ins Leben gerufen werden, ein Betroffenenbeirat soll kontinuierlich eingebunden werden.

Bis dieser Expertenrat des DTB seine Arbeit aufnehmen kann, könnte noch einige Zeit ins Land gehen. Denn zunächst soll abgewartet werden, bis die Staatsanwaltschaft ihre Ermittlungen abgeschlossen und die Kanzlei Rettenmaier ihre Datenanalyse beendet hat.

Sendung am Fr., 23.5.2025 18:40 Uhr, SWR1 Baden-Württemberg