
Datenanalyse So hat Blessin den FC St. Pauli besser gemacht
Der FC St. Pauli könnte am Sonnabend gegen den VfB Stuttgart den Klassenerhalt in der Fußball-Bundesliga feiern. Der wäre ein großer Erfolg für den Club, aber auch für Trainer Alexander Blessin. Der Coach hat sein Team und sich selbst weiterentwickelt, wie die Daten zeigen. Das macht ihn attraktiv für andere.
Wie sehr sich Grenzen - und auch der eigene Anspruch - verschieben können, drückte am vergangenen Sonntag St. Paulis Mittelfeldspieler Philipp Treu wahrscheinlich am besten aus. "Aufgrund der schlechten Leistung nach der Pause können wir mit dem Punkt zufrieden sein", sagte er nach dem 0:0 im Nordduell bei Europapokal-Aspirant Werder Bremen.
Treu und Co. hatten den SVW, der zuvor vier Siege in Serie gefeiert hatte, im ersten Durchgang im Weserstadion klar dominiert, sodass man sich bisweilen fragen konnte, wer eigentlich um den Klassenerhalt kämpft und wer um Europa. Die Mittel: exzellentes Positionsspiel, griffiges Pressing, resolutes Zweikampfverhalten. Kernmerkmale des Blessin-Fußballs.
Dass dies in Durchgang zwei gegen nun bessere Werderaner nicht mehr so gut gelang, genügte Treu für seine durchaus harsche Einschätzung, obwohl sein Team noch immer mit einer kämpferisch starken und mental resilienten Leistung überzeugte.
St. Pauli kann gegen Stuttgart den Klassenerhalt sichern
Die gleichermaßen richtige Einschätzung vieler Mannschaftskollegen, dass die Braun-Weißen ein solches Spiel in der Hinrunde verloren hätten und man in dieser Hinsicht eine klare Entwicklung sehen könne, teilte auch der 24-Jährige. Und doch war ihm der Hinweis wichtig, dass er in der zweiten Hälfte die Klarheit "in unseren Absprachen" und "die Intensität bei zweiten Bällen" vermisste. St. Pauli, das am Sonnabend gegen den VfB Stuttgart (15.30 Uhr, im NDR Livecenter) den Klassenerhalt endgültig sichern kann, hat die eigenen Grenzen verschoben.
Denn aus Treus Ausspruch sprechen ein gestiegener Anspruch an sich selbst, eine klare Haltung und ein steter Entwicklungsdrang. Dinge also, die Trainer Blessin seit seiner Amtsübernahme im vergangenen Sommer permanent einfordert - von seinen Spielern, aber auch von sich selbst. Wie gut dem 51-Jährigen das im vergangenen Dreivierteljahr gelungen ist, verdeutlichen auch die Daten des Global Soccer Networks (GSN).
Die GSN-Experten attestieren dem gebürtigen Stuttgarter "spürbare Fortschritte in seinem taktischen Management und seiner Flexibilität". Seine Arbeit beim FC St. Pauli in dieser Saison, seiner ersten Station als Bundesliga-Trainer, lässt sich demnach in drei Phasen nachvollziehen:
Phase 1: Spieltag 1 bis 24 - Festhalten am 3-4-3
Philosophie:
- Mutiges, aggressives Anlaufen mit einer vordersten Pressingreihe von drei Spielern.
- Offensive Breite über die hochstehenden Flügelspieler.
- Aktive Ballgewinne im Angriffsdrittel und schnelles Umschalten.
Punkteausbeute:
- In den ersten 24 Spieltagen holte St. Pauli 21 Punkte, was einer durchschnittlichen Ausbeute von 0,88 Punkten pro Spiel entspricht.
Das machte deutlich, dass die Spielweise zwar mutig, aber in der Punktausbeute noch nicht konstant erfolgreich war.
Teamentwicklung:
- Der GSN-Index des FC St. Pauli lag am Ende der Saison 2023/2024 (vor Blessin) noch bei 61,95.
- Bereits vor Saisonbeginn 2024/2025, mit den gezielten Neuzugängen, die Blessin integrierte, stieg er leicht auf 62,95.
Phase 2: Spieltag 25 bis 29 - Umstellung auf 3-5-2
Philosophie:
Ab dem 25. Spieltag vollzog Blessin eine taktische Anpassung und stellte auf ein 3-5-2-System um. Diese Umstellung war laut GSN aber "keine reine Systemänderung - sie war Ausdruck einer bewussten strategischen Weiterentwicklung Blessins".
- Der zusätzliche zentrale Mittelfeldspieler brachte mehr Präsenz im Zentrum, half bei der Kontrolle von Spielrhythmen und schuf Überzahlsituationen in der Ballzirkulation.
- Gleichzeitig wurde das Spiel etwas kompakter und stabiler. Die Außenverteidiger blieben etwas defensiver, während im Zentrum variabler auf Umschaltmomente reagiert werden konnte.
- Blessin verzichtete bewusst auf einen dritten Stürmer und setzte stattdessen auf ein stärker balanciertes Zentrum - Risiko und Stabilität waren bewusster ausbalanciert als noch zu Saisonbeginn.
Punkteausbeute:
- Zwischen dem 25. und 29. Spieltag holte St. Pauli acht Punkte (1,60 Punkte pro Spiel). Der Sprung von 0,88 auf 1,60 Punkten pro Spiel unterstreicht laut GSN, "dass die Umstellung Blessins Wirkung zeigte".
Teamentwicklung:
- Parallel zur verbesserten Punkteausbeute setzte sich auch die qualitative Entwicklung des Teams fort. Bis zum 29. Spieltag stieg der GSN-Index auf 63,29.
Phase 3: Spieltag 30 bis 31 - Rückkehr zum 3-4-3
Philosophie:
Ab Spieltag 30 kehrte Blessin wieder zum 3-4-3 zurück. Allerdings, so die GSN-Analyse, "nicht, um in alte Muster zu verfallen, sondern um gezielt auf die jeweilige Spielsituation zu reagieren".
- Gegen Gegner, die offener agierten oder offensiv mitspielen wollten, nutzte Blessin wieder die Vorteile seines ursprünglichen Systems: mehr Breite, mehr offensive Präsenz und höhere Pressinggefahr auf die gegnerischen Verteidiger.
- Diese Rückkehr zeigte, dass Blessin seine Systeme nun bewusst als Werkzeuge einsetzt: je nach Gegner, Situation und eigener Spielidee.
St. Pauli interpretierte das 3-4-3 reifer:
- Die Achter unterstützten im Pressing klüger.
- Die Abstände in Ballbesitzphasen waren kompakter.
- Die Umschaltbewegungen wurden nicht mehr ausschließlich auf Geschwindigkeit ausgerichtet, sondern auch auf Ballkontrolle und Spielfortsetzung.
Punkteausbeute:
- In den Spieltagen 30 und 31 holte St. Pauli zwei Punkte, was einer durchschnittlichen Ausbeute von einem Zähler pro Spiel entspricht.
Teamentwicklung:
- Der GSN-Index erhöhte sich noch einmal leicht auf 63,31.
Gute Fähigkeit zur Anpassung
In der ersten Phase ging es Blessin laut den GSN-Experten vor allem darum, "seine Handschrift zu implementieren und dem Team ein starkes Grundgerüst zu geben" - mit hoher Pressingintensität, gutem Flügelspiel, vertikalem Umschaltspiel. Allerdings: Speziell zu Beginn der Saison gab es "auch eine gewisse Anfälligkeit in engen Spielen gegen tiefstehende oder spielstarke Gegner: Wenn der Gegner das Pressing überspielen konnte oder sehr kompakt verteidigte, fehlten manchmal Lösungen im letzten Drittel."
Über die Spielzeit hinweg verfeinerte der Trainer seine Spielidee, variierte die Formation, "ohne diese zu verraten", traf aber auch im Verlauf einer Begegnung durch personelle oder systemische Anpassungen wichtige Entscheidungen.
Die vorgenommenen Wechsel (durchschnittlich 4,23 pro Spiel) zeigten oft Wirkung: Sieben Scorerpunkte - vier Tore und drei Assists - kamen bei den Hamburgern bislang von der Bank. Zudem sei Blessin gut darin, Spielsituationen zu erkennen und durch Systemumstellungen darauf zu reagieren (zehn Mal in 31 Partien).
Er sehe eine andere Eingespieltheit, sagte Blessin, der zudem lobte, dass sein Team die Fehler im Vorwärts-Verteidigen und im Stellungsspiel deutlich reduziert habe. Die drittbeste Abwehr der Liga bei zugleich den wenigsten Gelben Karten sind nur zwei bemerkenswerte Statistiken von St. Paulis Saison.
Blessins Plus sind seine verschiedenen Stationen
Dass die so verläuft, ist auch ein Resultat von Blessins Fähigkeit zur Anpassung und (Weiter-)Entwicklung, die wiederum im Zusammenhang mit seinem Werdegang steht: Als Trainer zunächst fußballerisch im Jugendbereich von RB Leipzig "sozialisiert", zog es ihn in der Folge nach Italien (CFC Genua) und Belgien (KV Oostende und Union Saint-Gilloise). Schon im vergangenen Juli, noch vor dem Start der Saison, schwärmte Sportchef Andreas Bornemann von der Arbeit des 51-Jährigen: "Ich bin sehr froh, dass wir ihn gefunden haben. Er kennt die Herausforderung, die eine höhere Spielklasse mit sich bringt."
Dass Blessin bei sehr unterschiedlichen Vereinen "und in sehr verschiedenen Fußballkulturen" gearbeitet hat, ist für die GSN-Experten "ein klares Plus", weil die unterschiedlichen Stationen "ihn spürbar kompletter gemacht" haben: "Blessin hat sich vom extrem Pressing-fokussierten, teilweise risikobehafteten Trainer bei Oostende zu einem flexiblen, variabel spielkontrollierenden Coach entwickelt, ohne aber seine Grundidee von mutigem, aktivem Fußball aufzugeben." Eine Analyse, die sich auch anhand von Daten belegen lässt.
Bereich | KV Oostende | CFC Genua | Union Saint-Gilloise | FC St. Pauli |
---|---|---|---|---|
Pressingintensität | 6,9 | 8,2 | 9,4 | 7,8 |
Ballbesitz | 47,75 Prozent | 52,1 Prozent | 55,3 Prozent | 53,7 Prozent |
Erwartete Gegentore pro Spiel | 1,34 | 1,29 | 1,04 | 0,99 |
Ballgewinne im Angriffsdrittel | 5,3 | 3,9 | 4,2 | 5,1 |
Prinzipien beibehalten, Methoden und Strategien anpassen
Für die Daten-Experten folgt Blessins Entwicklung einer klaren Linie: Grundprinzipien beibehalten, aber Methoden und Strategien anpassen, um auf höherem Niveau bestehen zu können.
Aufbauend auf dem System seines Vorgängers Fabian Hürzeler hat er das Spiel der "Boys in brown" für die Bundesliga adaptiert und weiterentwickelt. Schon im Februar hatte das Global Soccer Network analysiert, dass seine Art, Fußball spielen zu lassen, noch besser zum FC St. Pauli in einer höheren Spielklasse passt, als es das unter Hürzeler getan hätte. Bei den Braun-Weißen lässt Blessin den bislang ausbalanciertesten Fußball seiner Karriere zwischen Pressing, Ballbesitz und Ballgewinnen spielen.
Blessin bei Wolfsburg und Leipzig im Gespräch
Und auch wenn sein Team den schwächsten Angriff der Liga stellt: Der Erfolg gibt ihm Recht. Die Hamburger spielen mit einem nur punktuell verstärkten Kader eine weitgehend sorgenfreie Saison und können am Sonnabend gegen den VfB den Klassenerhalt endgültig sichern. Doch der Erfolg weckt auch Begehrlichkeiten. Mal wieder. Schon in der Vorsaison hatte Hürzeler, damals noch mitten im Aufstiegsrennen, das Interesse einiger Clubs auf sich gezogen.
Blessin, dessen GSN-Trainerindex aktuell bei 68,7 liegt (Bundesliga-Niveau) und bis auf 72,6 hochgehen könnte (internationale Klasse), steht in einer Riege mit Heidenheims Coach Frank Schmidt, dem Frankfurter Trainer Dino Toppmöller oder dem Mainzer Bo Henriksen.
Und so wurde er in den vergangenen Wochen immer wieder im Zusammenhang mit anderen Bundesligisten genannt, die eine für ihre Verhältnisse mäßige (Leipzig) bis schwache (Wolfsburg) Saison spielen. Und wäre er vielleicht sogar für einen Verein wie Noch-Meister Leverkusen interessant, der seinen Star-Trainer Xabi Alonso aller Voraussicht nach ziehen lassen muss?
Wie wird der GSN-Index bei Trainern erstellt?
Der GSN-Index bei Trainern setzt sich aus unterschiedlichen Faktoren zusammen. Relevanz haben:
- die Stärke des eigenen Teams im Verhältnis zur Stärke der Liga - geholte Punkte werden faktorisiert.
- die Spielerentwicklung - entwickeln sich Spieler unter einem bestimmten Trainer weiter, stagnieren sie oder werden gar schlechter?
- taktische Flexibilität - schafft es ein Trainer, sein Team situationsbedingt taktisch umzustellen, um damit erfolgreich zu sein?
- statistische Werte der Mannschaft - auch taktisch und technisch.
Bewertungs-Skala:
- 85 - 100: Weltklasse-Trainer wie Klopp, Guardiola oder Flick
- 70 - 85: Trainer, die die Fähigkeiten haben, eine Nationalmannschaft zu coachen oder einen Club, der international spielt (innerhalb der Top-Fünf-Ligen)
- 60 - 70: Bundesliga-Trainer
- ...
Murmeltier-Moment für Bornemann?
Die GSN-Experten haben in dieser Frage ein klares Votum: "Die mit Abstand beste Option wäre aus sportlicher und strategischer Sicht, zunächst bei St. Pauli zu bleiben und dort weitere Bundesliga-Erfahrung zu sammeln." Ein späterer Wechsel zu einem Club wie Leipzig wäre denkbar, "wenn Blessin seine Entwicklung stabil auf das Niveau einer internationalen Klasse fortsetzen kann".
Und doch könnte es für Sportchef Bornemann nach dieser Spielzeit zu einer Art Murmeltier-Moment kommen, wenn er sich erneut auf die Suche nach einem Coach begeben muss.
Zunächst aber wollen Blessin und sein Team zu Ende bringen, woran sie seit 31 Spieltagen arbeiten: den Klassenerhalt. Und dafür durften es in den vergangenen Tagen gerne auch schon mal etwas derbere Worte des ansonsten so akribischen wie ruhigen Blessin sein: "Es ist mir sch...egal, gegen wen wir es klarmachen. Und wenn es gegen Stuttgart ist, ist es schöner." Sagte der gebürtige Schwabe, der St. Pauli stark und sich selbst so attraktiv gemacht hat.
Dieses Thema im Programm:
Hamburg Journal | 01.05.2025 | 19:30 Uhr