Mark Cavendish
Tourreporter

Tour de France Mark Cavendish und der eine Etappensieg

Stand: 03.07.2023 08:40 Uhr

Die 3. Etappe der Tour de France bietet den Sprintern die erste Chance auf einen Etappensieg. Für Mark Cavendish beginnt damit die Jagd auf einen einsamen Rekord.

Von Michael Ostermann, San Sebastian

Es sind entspannte Momente für Mark Cavendish, wenn er morgens aus dem Mannschaftsbus steigt: Der direkte Weg führt ihn zu den Fans am Absperrgitter, die schon aufgeregt "Mark, Mark" rufen. Dann schreibt er Autogramme, posiert für Selfies, umarmt Bekannte. Von Anspannung ist nichts zu spüren, keine Last der Geschichte zu erkennen, die er bei dieser Tour schreiben könnte.

Der beste Sprinter der Geschichte

Cavendish ist jetzt 38 Jahre alt. Am Ende der Saison wird er seine Radsportkarriere beenden. Und es ist nicht übertrieben zu sagen, dass er der beste Sprinter in der Geschichte des Radsports ist. 162 Siege hat der Brite seit seinem Profidebüt 2007 eingefahren. Er war Weltmeister 2011, gewann 2009 den Frühjahrsklassiker Mailand-Sanremo und diverse andere Rennen. Aber jetzt geht es nur noch um diesen einen Sieg.

Mark Cavendish

Der Mann von der Isle of Man muss nur noch einmal jubelnd über den Zielstrich einer Etappe rollen, dann hätte er seit seinem ersten Tageserfolg 2008 insgesamt 35 Etappensiege gefeiert. Das wäre ein neuer Rekord, den alten teilt er sich mit dem legendären Eddy Merckx. Die Leute vergessen das manchmal, wenn sie Cavendish danach fragen, was es ihm bedeuten würde, den Rekord von Merckx zu brechen. "Unseren Rekord", korrigiert er dann.

Auf die Frage selbst aber hat Cavendish - zumindest öffentlich - gar keine Antwort. Auf der Pressekonferenz vor dem Start der Tour de France überlegte er 30 Sekunden, nur um dann zu sagen: "Ganz ehrlich, ich weiß es nicht, sorry." Es gehe ihm nur darum, so viel zu gewinnen, wie er könne.

Das Gewinnen ist zuletzt schwieriger geworden

So hat er das immer gehalten, alles andere kam dann eben dazu. Aber mit dem Gewinnen ist es zuletzt wieder schwieriger gewesen. Nach dem Erfolg bei den britischen Meisterschaften im Juni vergangenen Jahres konnte er elf Monate lang keinen Sieg mehr landen.

QuickStep hatte ihn bei der Tour de France 2022 außen vor gelassen und stattdessen mit Fabio Jakobsen einen jüngeren Weltklassesprinter nominiert. Und das, obwohl ihm doch im Vorjahr noch jene vier Etappensiege gelungen waren, die ihn auf eine Stufe mit Eddy Merckx brachten. Das Grüne Trikot des besten Sprinters gab es dafür gleich auch noch. Ein Märchen - nach fünf Jahren ohne Erfolg in Frankreich, nach Krankheiten, Verletzungen und Depressionen.

Astana gewährt Cavendish Unterschlupf

Im vergangenen Winter schien es dann sogar, als sei Cavendishs Karriere schon vorbei. Bei QuickStep bekam er keinen neuen Vertrag mehr, dem französischen Team, bei dem er unterkommen wollte, kamen die angekündigten Sponsoren und damit die Finanzierung abhanden. Und Cavendish stand plötzlich ohne Mannschaft da. Bis das Team Astana ihm schließlich Unterschlupf gewährte. Eine Mannschaft, die sich bis dahin für Sprinter gar nicht interessiert hatte.

Entsprechend schwierig gestalten sich die Sprints seitdem für Cavendish. Meist ist er im Finale auf sich alleine gestellt, muss sich den Weg an das richtige Hinterrad selbst bahnen. Oft klappte das nicht. Beim Giro d'Italia gelang ihm im Mai dann jedoch auf der letzten Etappe der erste Sieg im neuen Team, als niemand mehr damit rechnete. Unterstützung bekam er da allerdings auch von Geraint Thomas, für ein anderes Team unterwegs, aber ein alter Freund. Doch der Sprint selbst war dann ein Paradestück des Altmeisters.

Der frühere Anfahrer Renshaw als Berater

Man dürfe Cavendish eben niemals abschreiben, heißt es seitdem wieder im Peloton. Aber auf fremde Hilfe wie beim Giro darf Cavendish bei der Tour de France nicht zählen. Darum hat er sich kurz vor dem Grand Départ einen alten Weggefährten ins Boot geholt. Der Australier Mark Renshaw, 40, der ihm jahrelang die Sprints anfuhr, fungiert jetzt offiziell als Sprintberater für das Team.

Mark Renshaw und Mark Cavendish bei der Tour de France 2016

Mark Renshaw (l.) und Mark Cavendish bei der Tour de France 2016

Renshaw soll sich nun die Finals der Sprintetappen genauer ansehen, Tipps geben, die richtige Strategie entwickeln. "Wir sind zusammen Rennen gefahren, er weiß, wie ich das Finale fahren würde. Und das hat sich nicht geändert", sagt Renshaw über seine Rolle, die durchaus auch eine psychologische Komponente hat: "Wenn ich ihm meine Einschätzung gebe, muss er keine zweite Überlegung anstellen oder die Information einschätzen. Er vertraut mir."

Bol soll Cavendish die Sprints anfahren

Auf der Straße aber muss Cavendish sich dann auf andere verlassen. Vor allem auf Cees Bol, 27. Einen groß gewachsenen Niederländer, der 2020 selbst schon einmal Zweiter war auf einer Touretappe, nur geschlagen von einem der Stars des Radsports - dem Belgier Wout van Aert. Jetzt soll Bol die Sprints anfahren für Cavendish.

Der Anfahrer und sein Sprinter müssen ein eingespieltes Team sein, wenn sie bei Tempo 60 und mehr im Finale die richtigen Entscheidungen treffen sollen. Dafür braucht es Zeit, die es nun aber nicht mehr gibt. "Es ist schwer zu sagen, wie weit wir dabei schon sind", sagt Bol: "Ich weiß schon, was er will, das ist nicht der schwierige Teil. Aber das umzusetzen, ins Rennen zu übertragen und die Strategien der anderen Teams zu entschlüsseln - das ist das schöne an den Sprints, aber das ist auch das Schwierige."

Keine Zeit für Sentimentalitäten

Cavendish und Bol haben auf dem Papier acht Gelegenheiten, ihren jeweiligen Plan auf die Zielgerade zu bringen. Die erste Chance bietet sich wahrscheinlich schon auf der 3. Etappe nach Bayonne, wenn die Tour nach zwei Tagen im spanischen Baskenland Frankreich erreicht. Und am Dienstag (04.07.2023) auf der 4. Etappe wohl gleich die zweite.

Cavendish ist zum letzten Mal als Radprofi bei der Tour de France, aber Zeit für Sentimentalitäten hat er nicht. "Jetzt muss ich erstmal meinen Job erledigen", sagt er: "Die Tour bietet einem die unglaublichsten Gefühle, aber wirklich wertschätzen kann man das immer erst hinterher." Dieser eine Sieg - der Rekordetappensieg - würde ihm das sicher leichter machen.