Der Brite Mark Cavendish beim Giro d'Italia

Wachablösung im Sprint Generationen-Duell beim Giro - Mark Cavendish trifft auf Jonathan Milan

Stand: 16.05.2023 11:34 Uhr

Der alte Mann kann es nicht lassen. Immer wieder wirft Mark Cavendish sich in den Massensprint - auch jetzt mit 37 Jahren beim Giro d'Italia 2023. 161 Profisiege hat er in seiner Karriere bereits errungen, die meisten davon im Sprint eines mehr als 200 Beine starken Pelotons.

Von Tom Mustroph

Er ist - gemeinsam mit dem großen Eddy Merckx - Rekordhalter an Etappensiegen bei der Tour de France. 34 Mal durfte er bei der Tour die Arme hochreißen und Champagner vom Podium verspritzen. Weltmeister war er auch, Monumente-Sieger ebenfalls. Beim Giro, seinem siebten, garniert mit 16 Etappensiegen, fällt er vor allem wegen seiner exzellenten Radbeherrschung auf.

Reife Akrobatenleistung

Beim Sprint der 5. Etappe kämpfte er nach Kollision mit dem Italiener Alberto Dainese akrobatisch um die Balance. Er blieb noch auf dem Rad, drängte im Widerstand gegen die Fliehkräfte allerdings den Green-Project-Bardiani-Fahrer Filippo Fiorelli in die Absperrgitter. Der rasierte in voller Fahrt die Smartphones ab, die unvorsichtige Zuschauer durch die Barrieren gesteckt hatten.

Irgendwie, wie weiß er selber nicht, hielt sich Cavendish weiter oben. Im Hubschraubermodus, die Arme nach vorn gereckt, die Beine abgespreizt auf Sattelhöhe, rauschte er dem Zielstrich entgegen. Den erreichte er dann nur auf dem Allerwertesten rutschend. Größere Verletzungen vermied er immerhin. "Ich bin ok", sagte er später mit schiefem Lächeln. Schlitternd wurde er immerhin Fünfter, sein bestes Ergebnis bislang bei diesem Giro. Er rückte später auf Platz vier auf, weil Dainese von der Jury wegen gefährlicher Fahrweise ans Ende der Gruppe relegiert wurde.

Der alte Haudegen nahm den Zwischenfall mit Gelassenheit. "Beim Radsport weiß man nie, was alles passieren kann. Schade ist es natürlich, weil ich supergute Beine hatte und auch perfekt positioniert war", sagte er.

Montageprobleme beim Sprintzug

In perfekte Position wurde er in dieser Saison noch recht selten gebracht. Der Sprintzug bei seinem neuen Team Astana Qazaqstan funktioniert einfach nicht. "Wir haben jetzt beim Giro auch gar keinen richtigen Zug dabei. Cav ist eher auf sich allein gestellt", sagte der Sportliche Leiter Alexandre Shefer der Sportschau. Das verwundert. Denn Cavendish hatte nur mit der vagen Aussicht auf Etappensiege bei der Tour de France - und einer Verbesserung des Uraltrekords von Merckx - bei Astana einen Vertrag erhalten.

Für den kasachischen Rennstall, bislang alles andere als ein Exzellenzprojekt in Sachen Massensprint, bietet die Liaison mit Cavendish die unverhoffte Gelegenheit, doch noch ein paar Erfolge zu erzielen. Denn über einen echten Siegfahrer verfügt das Team schon länger nicht mehr.

Umso überraschender ist, wie schlecht die Zeit vor dem Großereignis Tour de France genutzt wird. Cavendish muss sich mit immer wechselnden Anfahrern herumplagen. Beim Giro fällt diese Aufgabe den Italienern Gianni Moscon und Christian Scaroni zu. Das sind allerdings bergfeste Fahrer und keine Hochgeschwindigkeitsbestien. Beim Scheldeprijs, Mailand-San Remo und der UAE Tour hatte Cavendish immerhin den Niederländer Cees Bol an seiner Seite, bei der Tour of Oman den Esten Martin Laas. Beide sind selbst passable Sprinter. Wer von ihnen zur Tour mitkommt, ist aber ungewiss. Ebenso, wer bei Cavendishs nächstem Vorbereitungsrennen, der ZLM Tour, Zugbegleiter sein darf.

Cavendish verliert zumindest nach außen hin nicht die Zuversicht. "Alles hier dient der Vorbereitung auf den Juli", sagte er der Sportschau. Und ein paar Chancen auf einen Massensprint beim Giro hat er ja auch noch.

Milan - der neue Cipollini?

Ein paar neue Rivalen hat der Oldie aber auch. Im verlöschenden Licht des Alt-Stars Cavendish erstrahlt der neue Stern Jonathan Milan nur umso heller. Eine Giro-Etappe gewann der erst 22-jährige Italiener schon, zwei Mal war er Zweiter. Auch bei Cavendishs ungewollter Akrobatikübung auf der 5. Etappe hielt er sich vor der Gefahrenzone auf.

Jonathan Milan aus dem Team Bahrain Victorious beim Giro d'Italia

In seinem Heimatland sieht man in ihm schon eine Wiedergeburt des großen Mario Cipollini. Auch der war erst 22, als er seine erste Giro-Etappe gewann. Beide sind von der Statur her ähnlich, Milan ist sogar noch ein paar Zentimeter größer als Cipollini. Der freut sich über den Youngster. "Endlich mal wieder ein italienischer Sprinter von Gewicht", meinte er.

Spross der italienischen Bahnschule

Milan entspringt der formidablen italienischen Bahnschule. Gemeinsam mit Filippo Ganna war er im goldenen Olympia-Vierer. Die beiden Teamkollegen machten auch das WM-Finale der Einerverfolgung 2022 unter sich aus - mit dem besseren Ende für den erfahreneren Ganna. Der ist der etwas ausdauerndere der beiden, nicht umsonst ist Ganna auch Zeitfahrweltmeister auf der Straße. Milan hingegen ist explosiver. "Wir haben jetzt einen tollen Zeitfahrer und einen tollen Sprinter. Fehlt nur noch ein Rundfahrer, der die Lücke füllen kann, die Vincenzo Nibali hinterließ", frohlockte der frühere Nationaltrainer Davide Cassani, der jetzt hauptsächlich für die RAI kommentiert.

Den Namen Milan sollte man sich merken. Das Lila Trikot des Punktbesten Fahrers beim Giro trägt der Bahrain-Profi bereits. Fünf Gelegenheiten, sich weiter auzuzeichnen, bietet dieser Giro noch. Vom Profil her kommen die 10. und 11., eventuell die 14., ganz sicher die 17. Etappe sowie der Abschlusstag in Rom in Frage.

Spätestens dort will aber auch Mark Cavendish seine Giro-Bilanz verbessern, um dann mit begründetem Selbstbewusstsein die Reise nach Frankreich anzutreten.