John Degenkolb winkt
Tourreporter

Interview mit John Degenkolb "Wenn das Genießen abhandenkommt, ist das doof"

Stand: 10.07.2023 17:16 Uhr

Der deutsche Radprofi John Degenkolb, 34, vom Team dsm-firmenich fährt zum neunten Mal bei der Tour de France. Im Sportschau-Interview spricht er über unvorsichtige Fans am Streckenrand, abgewogene Haferflocken und das näher rückende Karriereende.

Von Michael Ostermann, Clermont-Ferrand

Sportschau: Herr Degenkolb, die ersten neun Etappen der Tour de France sind gefahren. Wie kann man die Tour bis hierher zusammenfassen, wenn man wie Sie schon so oft dabei war?

John Degenkolb: Es ging Schlag auf Schlag los und war vom ersten Tag an megaschwer. Nach sechs Tagen waren wir schon auf dem Tourmalet, das ist schon verrückt. Wenn man sich das überlegt, hat sich das ein bisschen komisch angefühlt. Auf der anderen Seite kann man der Streckenführung schon auch etwas abgewinnen, weil es dadurch nicht so viele Stürze gab in den ersten Tagen.

Auch die ersten Sprints sind alle ohne großes Sturz-Desaster über die Bühne gegangen, außer auf dieser Auto-Rennstrecke (auf der 4. Etappe in Nagaro, Anm. der Red.). Da gab es einige Stürze, aber nicht in dem Maße, wie wir das von den letzten Jahren gewohnt waren, wo 50 oder 100 Mann aufeinanderlagen.

"Haltet bitte Abstand und geht an die Seite"

Sportschau: Einige Fahrer haben sich vor allem über die Zuschauer beschwert. Der belgische Radprofi Steff Cras machte einen Fan, der nicht zur Seite ging, für sein Aus bei der Tour verantwortlich. Am Sonntag sorgte eine Wäscheleine mit Wimpeln, die sich gelöst hatte, für einen Sturz des Franzosen Lilian Calmejane. Kommen diese Vorfälle häufiger vor als früher?

Degenkolb: Nein, aber das lässt sich einfach auch nicht komplett vermeiden. Auf der ersten Sprintetappe zum Beispiel stand ein älterer Herr mit seiner Spiegelreflexkamera auf der Straße und mein Kollege vor mir hat ihn voll touchiert. Die Kamera ist mir entgegen und auf den Lenker geflogen.

Man muss immer wieder appellieren: Haltet bitte Abstand und geht an die Seite. Die Straße endet mit dem Ende des Asphalts. Und diesen Platz brauchen wir. Deswegen könnt ihr euch nicht auf die Straße stellen. Das Allerschlimmste ist, wenn die Selfies machen mit dem Rücken zu den Radfahrern. Dann sehen sie gar nicht, wie wir angeschossen kommen. Oder wenn sie durch die Kamera gucken und überhaupt nicht realisieren, in welcher Geschwindigkeit wir auf sie zukommen, wie gefährlich das ist. Aber das ist kein neues Phänomen.

Sportschau: Die Sicherheit der Fahrer ist zuletzt überhaupt ein großes Thema gewesen. Jetzt haben UCI, Fahrergewerkschaften und Teams das Programm "SafeR" aufgesetzt. Wie bewerten sie das?

Degenkolb:. Ich glaube, dass das längst überfällig ist. Man kann kritisieren, dass man das schon längst hätte machen müssen. Aber wichtig ist halt, dass es jetzt gemacht wird. Das ist auf jeden Fall ein gutes Signal. Das ist auch das, was ich nach dem tragischen Unfall von Gino Mäder (der Schweizer starb im Juni bei der Tour de Suisse an den Folgen eines Sturzes, Anm. d. Red.) immer wieder gesagt habe: Das Wichtige ist, dass wir Regeln schaffen, die sowohl die Veranstalter bei der Streckenführung einhalten müssen, wie auch die Teams beim Equipment und eben auch die Rennfahrer mit ihrer Risikobereitschaft.

Es geht darum, Rahmenbedingungen aufzusetzen, damit man, wenn man hier bei der Tour de France am Start steht, sicher sein kann, dass der Streckenverlauf sich innerhalb dieser Regeln bewegt, sonst kann das Rennen nicht stattfinden. Wenn ich ein Restaurant eröffne, dann will das Gesundheitsamt ja auch von mir, dass gewisse Hygieneregeln eingehalten werden. Und wenn ich die nicht einhalte, wird mein Restaurant geschlossen.

"Auch Jumbo-Visma macht Fehler"

Sportschau: Der Kampf um das Gelbe Trikot wird auch diesmal geprägt vom Duell zwischen Jonas Vingegaard und Tadej Pogacar. Wer von beiden gewinnt die Tour?

Degenkolb: Tja, in die Zukunft kann keiner blicken. Ich glaube, nach dem ersten großen Schlagabtausch, als Vingegaard Pogacar eine Minute abgenommen hat, haben viele gedacht, es ist schon alles gegessen. Auch bei uns am Tisch war das die Meinung. Dass das dann so schnell wieder umgedreht wird, ist für den Radsport fantastisch.

Sportschau: Vingegaards Team Jumbo-Visma, ist auch in diesem Jahr wieder die dominierende Mannschaft. Bora-Kapitän Jai Hindley hat gesagt, gegen Jumbo-Visma Rad zu fahren, sei wie der Versuch, einem Tausendfüßler Socken anzuziehen.

Degenkolb: (Lacht) Das ist auf jeden Fall ein guter Vergleich. Die machen es natürlich gut und haben sich mittlerweile auch einen Ruf erarbeitet. Da nehmen direkt alle Haltung an und treten ihnen mit einer gewissen Portion Ehrfurcht gegenüber. Trotz alledem würde ich nicht sagen, dass sie unschlagbar sind. Sie machen auch Fehler. Und die müssen dann eben auch ausgenutzt werden.

"Der Radsport hat sich in den letzten Jahren extrem verändert"

Sportschau: Ihre eigene Rolle hat sich verändert. Sie verzichten bei dieser Tour auf eigene Ambitionen und sind jetzt der Road Captain in ihrem Team, der eher die taktischen Vorgaben macht. Wie schwer ist es Ihnen gefallen, in diese Rolle im Hintergrund zu rutschen?

Degenkolb: Dass ich jetzt nicht mehr so im Rampenlicht stehe und um die großen Erfolge nicht mehr selber mitfighten kann, ist natürlich auch ein bisschen dem Alter geschuldet und der Entwicklung des Radsports im Allgemeinen. Der Radsport hat sich in den letzten 13 Jahren extrem verändert und ist auf jeden Fall schneller geworden. Es kommen Rennfahrer direkt von den Junioren hoch und sind schon auf einem ganz anderen Niveau, als wir das damals in dem Alter waren. Und das puscht das ganze System nach vorne. Das macht es nicht einfacher, konkurrenzfähig zu sein, wenn man schon älter ist.

Trotz alledem habe ich noch totalen Spaß am Radfahren, habe Spaß daran, mich den ganzen Winter vorzubereiten, mit der Mannschaft an einem Ziel zu arbeiten und dann am Ende mit einem Sieg oder einer Platzierung belohnt zu werden. Ich habe mich mit meiner neuen Rolle mehr oder weniger abgefunden und habe nach wie vor genau denselben Ehrgeiz, den ich hatte, als ich für mich selber gesprintet bin. Jetzt versuche ich, das an die jüngeren Rennfahrer weiterzugeben und das ein oder andere Mal mein Köpfchen mehr einzusetzen als meine Beine.

"Die Enttäuschung von Roubaix sitzt immer noch in mir"

Sportschau: Das klingt sehr bescheiden, wenn Sie sagen, die großen Erfolge sind vielleicht nicht mehr drin. Beim Frühjahrsklassiker Paris-Roubaix sah das bis zu ihrem Sturz ganz anders aus. Da gehörten Sie im Finale zur Spitzengruppe. Wie lange hat es gebraucht, die Enttäuschung darüber zu verarbeiten?

Degenkolb: Das war schon eine große Enttäuschung, und die sitzt auch immer noch in mir. Wenn man daran zurückdenkt mit dem ganzen Erfahrungsschatz, den man über den Verlauf der Karriere gesammelt hat, dann weiß man, dass man nicht mehr oft in die Situation kommen wird, um den Sieg oder das Podium mitzufahren.

Auf der anderen Seite hat der Verlauf des Rennens mit diesem Drama auch dazu geführt, dass wirklich nur der Sieg die Aufmerksamkeit für mich noch hätte toppen können. Wenn ich Fünfter oder Dritter geworden wäre, wäre das auch eine Sensation gewesen, aber ich glaube, es wäre nicht so wahrgenommen worden wie diese Tragik, die mir da widerfahren ist.

Sportschau: An dem Sturz waren damals Jasper Philipsen und Mathieu van der Poel nicht unbeteiligt. Die beiden sind auch hier bei der Tour stark in die Kritik geraten für die Art und Weise, wie sie sprinten.

Degenkolb: Das ist schon ein Stück weit..., ob man jetzt auffällig sagen kann, weiß ich nicht. Auf jeden Fall gab es halt ein paar Vorfälle, immer mit denselben Leuten.

"Die Kinder wissen jetzt, wie lang vier Wochen sind"

Sportschau: Sie sind jetzt, wenn man das so sagen darf, im Herbst Ihrer Karriere. Wie sehr beschäftigen Sie sich mit dem, was danach kommt und wie schwierig ist es, sich damit zu befassen?

Degenkolb: Das ist nicht so einfach. Ich habe jetzt noch mindestens ein ganzes Jahr vor mir und kann mir durchaus vorstellen, vielleicht noch ein Jahr dranzuhängen. Aber das hängt natürlich von vielen Faktoren ab und davon, was der Familienrat beschließt. Die Kinder werden älter, das ist auch ein Faktor. Meine Kleine wird jetzt sieben Jahre alt und die nimmt das jetzt mehr mit. Das ist schon auch traurig. Denn egal ob die Tour oder die Vuelta, man ist einfach vier Wochen weg. Und die Kinder wissen jetzt, wie lang vier Wochen sind.

Jeder Familienvater weiß, wenn man vier Wochen seine Kinder nicht gesehen, nicht auf dem Arm gehabt hat, ist echt viel passiert in dieser Zeit. Das ist Zeit, die man opfert. Dementsprechend muss die Familie auch voll dahinterstehen, wenn man den Beruf weiterhin ausübt. Denn so halb und halb geht nicht. Entweder man gibt 100 Prozent, oder man lässt es bleiben.

"Der Ernährungsplan steht schon drei Wochen vor der Tour fest"

Sportschau: Sie haben eben von den Veränderungen im Radsport gesprochen. Dazu zählt auch die Verwissenschaftlichung des Sports in den vergangenen Jahren. Es gibt strikte Trainings- und Ernährungspläne. Wie schwierig ist es, sich diesem Regiment zu unterwerfen?

Degenkolb: Ja, da hat sich definitiv wahnsinnig viel getan. Als ich 2011 Profi wurde, hatten wir bei meiner ersten Grand Tour zwar auch schon einen Koch dabei, aber das war mehr so auf Zuruf. Wenn man mal Lust auf ein Steak hatte, dann gab es eins. Jetzt ist der ganze Ernährungsplan schon drei Wochen vor der Tour komplett niedergeschrieben: Vor den Bergetappen gibt es Low-Fiber-Ernährung, also mit wenig Ballaststoffen, die ja dann weniger Flüssigkeit im Körper bindet, damit man noch mal ein paar hundert Gramm leichter ist.

Jedes Team und jeder Rennfahrer versucht wirklich, an jedem kleinen Schräubchen zu drehen, um besser zu sein. Manchmal kommt es dann leider vor, dass viele Rennfahrer nur noch stupide ihr Ding durchziehen. Radsportler zu sein ist ein Riesenprivileg, das muss man auch genießen. Und wenn das abhandenkommt, ist das doof.

Sportschau: Sie lassen dann also auch mal Fünfe gerade sein?

Degenkolb: Ja, ich bin zum Beispiel hier nicht auf "personal plate". Wir haben fünf Rennfahrer bei uns in der Mannschaft, die ihr Essen fertig abgewogen auf den Teller bekommen. Zum Frühstück kriegen die eine gewisse Anzahl an Haferflocken und zwei Scheiben Brot. Je nachdem, was an dem Tag halt ansteht. Das Ziel ist, dass man genau das, was man bekommt, auch aufisst.

Ich kriege auch eine Guideline, an die ich mich zu halten habe. Aber wenn ich dann mal ein bisschen mehr oder ein bisschen weniger esse, ist das kein Problem. Unsere Ernährungsberaterin vertraut mir da mittlerweile und sagt: Okay, du kennst deinen Körper, bist bei 17 Grand Tours mitgefahren, das kriegst du auch so hin. Aber das Ziel der Teams ist, den Rennfahrern viele Sachen abzunehmen, damit sie so wenig wie möglich denken müssen.

Sportschau: Und individuelle Freiheit ist da nicht möglich?

Degenkolb: Bei mir schon (lacht).